Die Fünf Tore 1 - Todeskreis
ist mit Ihrem Mann passiert?«
»Kinder sollten keine neugierigen Fragen stellen. Aber gut, wenn du es unbedingt wissen willst …« Sie seufzte und senkte den Löffel wieder. »Mein Mann ist verschwunden. Er hieß Henry Lutterworth. Wir waren erst ein paar Monate verheiratet, als er im Wald spazieren ging und nie wiederkam. Vielleicht hat er sich verlaufen und ist verhungert. Lass dir das eine Lehre sein, Matthew. Die Wälder hier sind sehr dicht, und man kann leicht von ihnen verschluckt werden. Möglicherweise ist er auch in einen Sumpf geraten – das vermute ich. Es muss eine recht unangenehme Art zu sterben gewesen sein. Er wird versucht haben zu schwimmen, aber natürlich sinkt man umso schneller, je heftiger man sich bewegt, und nachdem ihm Wasser und Schlamm bis über die Nase gestiegen waren, war es natürlich aus mit ihm.«
Matt fragte sich, ob sie die Wahrheit sagte oder ob die Geschichte nur dazu diente, ihm Angst zu machen.
»Wenn sein Name Lutterworth war, warum heißen Sie dann Deverill?«, fragte er.
»Ich ziehe meinen eigenen Namen vor. Den Namen meiner Vorfahren. Es gab schon immer Deverills in Lesser Malling. Verheiratet oder nicht, wir behalten unseren Namen.« Sie schniefte. »Henry hat mir Hive Hall in seinem Testament vermacht«, erklärte sie. »Wir hatten Bienen, aber sie sind weggezogen. Das machen sie oft, wenn ihr Besitzer stirbt. Ich habe auch sein ganzes Geld geerbt. Aber für dich läuft die Geschichte nur auf eines heraus: Halte dich vom Wald fern.«
»Das werde ich«, sagte Matt.
»So, und nun zum Apotheker. Sag ihm, dass es für mich ist.«
Nach dem Essen ging Matt über den Hof zur Scheune. Er entdeckte das Fahrrad hinter einem alten Pflug. Es war offensichtlich seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Er holte es heraus, ölte die Kette, pumpte die Reifen auf und konnte wenige Minuten später vom Hof radeln. Es fühlte sich gut an, zum Tor hinauszufahren. Er arbeitete zwar immer noch für Mrs Deverill, aber alles war besser als der Schweinestall.
Matt war kaum aufgebrochen, als ihm auf der engen Straße ein Auto entgegengerast kam. Es war ein schwarzer Jaguar mit getönten Scheiben. Einen Moment lang sah es so aus, als wäre ein Zusammenstoß unvermeidlich. Es ging alles so schnell, dass Matt nicht einmal den Fahrer erkennen konnte. Er riss den Lenker herum, das Fahrrad schoss die Böschung hoch, rollte durch ein Gestrüpp aus Brennnesseln und schwenkte dann wieder hinab auf die Straße. Matt hielt an und sah sich um. Der Jaguar war auf die Farm gefahren. Er sah die Bremslichter aufleuchten, dann verschwand das Auto hinter dem Farmhaus. Am liebsten wäre Matt umgekehrt. Das war der erste fremde Wagen, den er seit seiner Ankunft in Hive Hall gesehen hatte. Ob es vielleicht jemand aus London war, jemand vom Jugendamt? Er zögerte, fuhr dann aber doch weiter. Schließlich war dies das erste Mal, dass er die Farm verlassen durfte. Sein erster Ausflug in die Freiheit.
Bis zum Dorf waren es knapp zwei Kilometer. Schon bald erreichte Matt die Kreuzung mit dem abgebrochenen Schild, auf der die fünf Straßen zusammenliefen. Überall um ihn herum war Wald, und Matt war froh, dass Mrs Deverill ihm gesagt hatte, welche Straße er nehmen musste, denn sie sahen alle gleich aus. Auf der Straße war kein Verkehr. Es rührte sich überhaupt nichts. Matt hatte sich noch nie einsamer gefühlt. Das letzte Stück des Wegs führte bergauf, und Matt kam ins Schwitzen, als er die Steigung hochradelte. Trotz des Öls hörte er das Knirschen des alten Fahrrads. Bald sah er die ersten Gebäude von Lesser Malling, und wenige Minuten später erreichte er den Dorfplatz.
Mrs Deverill hatte ihn schon gewarnt, dass in Lesser Malling nicht viel los sei, aber das war noch untertrieben, wie Matt feststellte. Das Dorf war klein und abgeschieden. Es hatte eine langweilige, heruntergekommen aussehende Kirche, eine Kneipe und zwei Reihen aus Häusern und Geschäften, die beiderseits des mit Kopfsteinen gepflasterten Dorfplatzes standen. Mitten auf dem Platz stand ein Kriegerdenkmal, ein schlichter Stein, in den zwanzig oder dreißig Namen eingraviert waren. Alle Geschäfte sahen aus, als hätten sie sich seit fünfzig Jahren nicht verändert. Eines verkaufte Süßigkeiten, das nächste Lebensmittel, ein anderes Antiquitäten. Am Ende der Reihe war der Laden des Schlachters. Tote Hühner hingen mit gebrochenem Genick von der Decke herunter, und graue, schwitzende Fleischstücke lagen auf dem Verkaufstresen.
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