Die Fünf Tore 1 - Todeskreis
dicke Kabel hielt sie in der Hand. »Ich glaube, dass er die Fotos gefunden hat.«
»Es war ein Fehler, sie im Haus zu behalten.«
»Mag sein. Aber es gibt noch etwas, das mir Sorgen macht. Matthew ist jetzt stärker als vorher. Ich fürchte, er fängt allmählich an, sich alles zusammenzureimen. Ich will ihn nicht mehr hier haben. Wenn Sie mich fragen, halten wir einen Tiger am Schwanz. Wir sollten eine andere Lösung für ihn finden, bevor es zu spät ist.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung hatte eine kalte, präzise Stimme – eine gebildete Stimme. Man konnte sich ihn gut als Leiter einer teuren Privatschule vorstellen. »Wie meinen Sie das?«
»Man sollte ihn einsperren. In der Kirche gibt es eine Gruft. Wir können ihn da hinbringen, unter die Erde, wo ihn niemand findet. Es ist ja nur noch für ein paar Wochen. Dann ist es ohnehin vorbei.«
»Nein.« Das einzelne Wort war endgültig. »Im Moment hält sich der Junge noch für normal. Er hat keine Ahnung, wer oder was er ist. Aber wenn Sie ihn lebendig begraben, findet er es womöglich heraus. Und was ist, wenn die Polizei oder sein Sozialarbeiter nach ihm sehen wollen? Wie wollen Sie dann erklären, wo er ist?«
»Und wenn er entkommt …?«
»Sie wissen, dass er nicht entkommen kann. Er steht unter einem Bann. Er kann nichts dagegen tun. Und wir werden schon bald bereit für ihn sein. Ihre Aufgabe ist es, auf ihn aufzupassen. Wo ist er jetzt?«
»Ich weiß nicht. Irgendwo draußen.«
»Passen Sie auf ihn auf, Mrs Deverill. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen.«
Es klickte, und die Leitung war tot. Mrs Deverill wog den Hörer in der Hand, dann legte sie ihn auf. »Asmodeus!«, rief sie.
Der Kater, der am anderen Ende des Zimmers auf einer Sessellehne schlief, öffnete ein Auge und sah sie an.
»Du hast gehört, was er gesagt hat«, fuhr sie ihn an. »Der Junge …«
Der Kater sprang vom Sessel aufs Fensterbrett und durch das offene Fenster. Er rannte an Noah vorbei hinaus auf die Straße. Einen Moment später war er außer Sicht.
Matt stand am Waldrand und starrte in den Tunnel zwischen den Bäumen. Sein Rad lag neben der Fahrbahn im Gras. Fünf Minuten waren vergangen, seit er Noah entwischt war und die Farm verlassen hatte. Aber bisher hatte er sich noch nicht entschieden.
Die Versuchung, nach London zu fliehen, war wieder da. Bestimmt hatte er letzte Nacht irgendeinen dummen Fehler gemacht. Er hatte nicht sehen können, wohin er fuhr, und war deshalb im Kreis herumgefahren. Aber eine innere Stimme warnte ihn, es nicht noch einmal auf der Straße zu versuchen. Er wollte keine Zeit mehr damit verschwenden, Kreise zu fahren, und außerdem gab es einen anderen Weg in die Freiheit. Seine Teilnahme am FED-Programm sollte doch freiwillig sein. Ein einziger Anruf bei Detective Superintendent Mallory würde ausreichen, ihn aus diesem Albtraum zu befreien.
Doch bevor er das tat, wollte er mehr wissen. Was waren das für Geräusche, die er letzte Nacht gehört hatte? Was ging im Wald vor sich? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Matt glaubte, dass er die Stelle gefunden hatte, an der er das Licht gesehen hatte. Sie lag irgendwo vor ihm. Und doch traute er sich nicht, die Straße zu verlassen. Es lag nicht an der Geschichte, die Mrs Deverill ihm erzählt hatte – er glaubte nicht, dass er in einen Sumpf laufen würde. Es war der Wald selbst, der ihm Angst machte, seine Unnatürlichkeit und die strenge Ausrichtung in Reihen. So sollte Natur nicht aussehen. Wie sollte er sich zurechtfinden, wenn eine Tanne aussah wie die andere, ohne Hügel, Pflanzen oder Bäche, an denen er sich orientieren konnte? Und es war noch etwas anderes. Die Zwischenräume zwischen den Tannen schienen sich ins Unendliche zu erstrecken, in ihr eigenes schattiges Universum. Die Dunkelheit wartete schon auf ihn. Er war wie eine Fliege am Rand eines riesigen Spinnennetzes.
Schließlich gab er sich einen Ruck, verließ die Straße und ging zwanzig Schritte geradeaus. Die Tannennadeln knirschten unter seinen Füßen. Solange er nicht nach links oder rechts abbog, konnte ihm nichts passieren, beruhigte er sich. Und wenn er das Gefühl bekam, sich verlaufen zu haben, brauchte er nur kehrtzumachen und auf demselben Weg zurückzugehen.
Und dennoch … Matt blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Es war unglaublich. Er kam sich vor, als wäre er durch einen Spiegel in eine andere Dimension übergetreten. Auf der Straße war es ein kühler, sonniger Frühlingsmorgen
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