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Die fünfhundert Millionen der Begum

Die fünfhundert Millionen der Begum

Titel: Die fünfhundert Millionen der Begum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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welche nicht wieder loslassen, was sie einmal packten, doch mit einem Saume schmaler Lippen, deren Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, die Worte zu zählen, welche sie passirten. Die ganze Erscheinung machte auf jeden Andern einen beunruhigenden, fast widerwärtigen Eindruck, worüber der Professor selbst übrigens ganz befriedigt zu sein schien.
    Bei dem durch seinen Diener verursachten Geräusch wandte er die Augen nach dem Kamine und sah nach einer sehr hübschen Wiener Stutzuhr, die sich merkwürdiger Weise unter die sonst sehr einfache Ausstattung seines Zimmers verirrt hatte, wobei er mit einer mehr steifen als rauhen Stimme sagte:
    »Sechs Uhr fünfundfünfzig! Mein Courier kommt spätestens um sechs Uhr dreißig. Sie bringen mir ihn heute wieder fünfundzwanzig Minuten zu spät. Das nächste Mal, wenn er nicht um sechs Uhr dreißig auf meinem Tische liegt, verlassen Sie binnen acht Tagen meinen Dienst.
    – Wünscht der Herr Professor jetzt zu speisen? fragte der Diener, bevor er sich zurückzog.
    – Es ist jetzt erst um sechs Uhr fünfundfünfzig und ich esse um sieben Uhr! Das ist Ihnen schon seit den drei Wochen, die Sie in meinem Hause sind, bekannt. Beachten Sie für die Zukunft, daß ich niemals mit den Stunden wechsle und nicht gewohnt bin, meine Anordnungen zu wiederholen.«
    Der Professor legte das Journal auf den Tisch und begann wieder an einem Aufsatze zu arbeiten, der in den nächsten Tagen in den »Annalen für Physiologie« erscheinen sollte. Wir begehen wohl keine Indiscretion, wenn wir die Ueberschrift dieser Arbeit mittheilen. Dieselbe lautete nämlich:
    »Warum verfallen alle Franzosen in höherem oder geringerem Grade einer fortwährenden Entartung?«
    Während sich der Professor mit dieser Aufgabe beschäftigte, wurde das Abendessen auf einem anderen Tische servirt. Der Gelehrte legte die Feder weg und verzehrte diese Mahlzeit mit größerem Wohlgefallen, als man von einer so ernsthaften Persönlichkeit erwartet hätte. Dann klingelte er nach dem Kaffee, zündete eine große Porzellanpfeife an und machte sich wieder an die Arbeit.
    Es war fast Mitternacht, als der Professor das letzte Blatt weglegte, worauf er sich sofort nach seinem Schlafzimmer begab, um der wohlverdienten Ruhe zu pflegen. Erst im Bette löste er das Kreuzband von seinem Journal und begann vor dem Einschlafen noch ein wenig zu lesen. Eben als ihm die Augen zufallen wollten, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen fremden Namen, nämlich Langevol, erregt, dem er unter der Rubrik »Vermischtes« in Verbindung mit der ungeheuren Erbschaftsangelegenheit begegnete. So viel er sich aber auch bemühte, sich klar zu machen, weshalb ihm dieser Name besonders auffiel, so gelangte er doch zu keinem Resultate. Nachdem er eine Zeit lang vergeblich hin und her überlegt hatte, warf er die Zeitung weg, blies das Licht aus und lag bald in tiefem Schlafe.
    In Folge eines gewissen physiologischen Phänomens aber, über welches er sich früher selbst in langen gelehrten Abhandlungen verbreitet hatte, kehrte dieser Name Langevol sogar in Professor Schultzes Träumen wieder. Ja, beim Erwachen am nächsten Morgen hatte er ihn zu seiner größten Verwunderung zuerst auf den Lippen.
    Plötzlich, als er gerade nach der Uhr sehen wollte, ging ihm ein unerwartetes Licht auf. Er hob das vor dem Bett liegende Journal wieder auf und las die betreffende Nachricht wiederholt von Anfang bis zu Ende durch, während er sich immer noch die Stirne rieb, als wolle er seine Gedanken in besseren Fluß bringen. Offenbar wurde er sich klar, denn er sprang plötzlich auf und lief, ohne sich zum Anziehen des großgeblümten Schlafrockes Zeit zu nehmen, nach der Wand, holte ein neben dem Fenster hängendes kleines Porträt herab und strich mit dem Aermel über dessen bestaubte Rückseite.
    Der Professor hatte sich nicht getäuscht. Hinter dem Bilde las man in vergilbten, durch ein halbes Jahrhundert schon nahezu unleserlich gemachten Schriftzügen die Worte:
    »Therese Schultze, geborne Langevol.«
    Noch am Abend desselben Tages reiste der Professor mit dem Schnellzuge nach London ab.
Viertes Capitel.
Jeder seinen Theil.
    Am 6. November um sieben Uhr Morgens kam Herr Schultze auf dem Bahnhofe von Charing-Croß an. Gegen Mittag stellte er sich in Nummer 93, Southampton row, in einem durch eine hölzerne Barrière in zwei Theile getrennten größeren Zimmer ein, das auf der einen Seite für die Beamten des Hauses, auf der anderen für das Publikum bestimmt war

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