Die Fünfundvierzig
Gegenwart er sich so viele Tage vergebens gesehnt hatte. Er zog die Barke ans Land und setzte sichzehn Schritte von der Dame und von Remy. Sie waren von der dringendsten Gefahr, das heißt vom Wasser, errettet.
Henri sah dieses rasche, brausende Wasser vorüberkommen, das Haufen von französischen Leichnamen, ihre Waffen, ihre Pferde an ihnen vorüberführte. Er fühlte einen heftigen Schmerz an seiner Schulter; ein schwimmender Balken hatte ihn in dem Augenblick, wo sein Pferd unter ihm versank, getroffen. Seine Gefährtin dagegen hatte keine Wunde, sie wurde nur von der Kälte geschüttelt; Henri hatte sie vor allem bewahrt, was er von ihr abzuwenden imstande gewesen war. Henri war sehr erstaunt, als er sah, daß die beiden, so wunderbar dem Tode entgangenen Wesen nur ihm dankten und keinen Ausdruck des Dankes für Gott, den ersten Urheber ihrer Rettung, hatten.
Die junge Frau stand zuerst auf; sie bemerkte, daß man am Hintergrunde des Horizontes im Westen etwas wie Feuer durch den Nebel wahrnahm. Es versteht sich, daß diese Feuer auf einem erhobenen Punkte brannten, den die Überschwemmung nicht hatte erreichen können. Soviel man bei der kalten Morgendämmerung, die der Nacht folgte, beurteilen konnte, waren sie ungefähr eine Meile entfernt.
Remy schritt nach dem Punkte des Hügels vor, der sich in der Richtung der Feuer ausstreckte, kam dann zurück und sagte, er glaube, etwa tausend Schritte von der Stelle, wo man Fuß gefaßt, beginne eine Art Steindamm, der in gerader Linie auf die Feuer zulaufe. Was Remy an einen Damm oder wenigstens an einen Weg glauben ließ, war eine doppelte, gerade und regelmäßige Linie von Bäumen.
Bald kam der Tag, aber wolkig und ganz voll Nebel; bei hellem Wetter, bei einem reinen Himmel hätte man den Glockenturm von Mecheln gesehen, von wo man nur noch zwei Meilen entfernt sein konnte.
Henri meinte, die Feuer seien bedrohlich. Offenbar sei ein großes Unglück über die Franzosen hereingebrochen, da lauter französische und keine flämische Leiche umherschwimme,die Feuer sollten wohl nur Leichtgläubige herbeilocken.
»Doch wir können nicht hier bleiben,« entgegnete Remy; »die Kälte und der Hunger würden meine Gebieterin töten.«
»Ihr habt recht, Remy,« sagte der Graf; »bleibt hier bei ihr, ich werde den Hafendamm zu erreichen suchen und Euch Nachricht bringen.«
»Nein, Herr,« sagte die Dame, »Ihr sollt Euch nicht allein der Gefahr aussetzen; wir haben uns miteinander gerettet und werden miteinander sterben. Remy, Euren Arm, ich bin bereit!«
Henri verbeugte sich ohne Widerspruch und ging voran.
Eine Viertelstunde nachher landeten sie an dem Damm. Sie befestigten die Kette des Fahrzeugs am Fuße eines Baumes, stiegen abermals ans Land, folgten dem Damme ungefähr eine Stunde lang und kamen zu einer Gruppe flämischer Hütten, in deren Mitte, auf einem mit Linden bepflanzten Platz, um ein großes Feuer zwei- bis dreihundert Soldaten versammelt waren, über denen die Falten eines französischen Banners flatterten.
Plötzlich entfachte die Schildwache, die etwa hundert Schritte vom Biwak stand, die Lunte ihrer Muskete und rief: »Wer da?«
»Frankreich,« antwortete du Bouchage.
Dann wandte er sich gegen Diana um und sagte: »Nun, Madame, seid Ihr gerettet; ich erkenne die Standarte der Gendarmen von Aunis, eines Korps von Edelleuten, bei denen ich Freunde habe.«
In der Tat eilten einige Gendarmen den Flüchtlingen entgegen, die als Landsleute und Schicksalsgenossen mit doppelter Herzlichkeit aufgenommen wurden. Man erzählte ihnen von der furchtbaren Katastrophe der französischen Armee, der die Gendarmen nur durch ein Wunder entgangen waren.Als sich du Bouchage mit erstickter Stimme nach dem Schicksal seines Bruders erkundigte, antwortete man ihm:
»Ach! Herr Graf, wir können Euch keine sichere Nachricht von ihm geben; er hat sich geschlagen wie ein Löwe, dreimal haben wir ihn aus dem Feuer gerissen. Es ist gewiß, daß er die Schlacht überlebt hat, doch ob er auch die Überschwemmung überlebte, können wir Euch nicht sagen.«
Henri neigte das Haupt und versank in bittere Betrachtungen.
»Und der Herzog!« fragte er plötzlich.
Der Fähnrich trat näher zu Henri und erwiderte mit leiser Stimme: »Graf, der Herzog war einer der ersten, die sich flüchteten. Er ritt ein weißes Pferd, nur mit einem schwarzen Stern auf der Stirn. Nun haben wir soeben das Pferd unter einem Haufen von Trümmern vorüberkommen sehen; das Bein eines Reiters wurde im
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