Die Fünfundvierzig
sehen, daß es nicht ein Atom der Liebe enthält, wie sie die anderen Menschen verstehen. Ihr glaubt mir nicht! Prüft die vergangenen Stunden, wägt sie ab, eine nach der andern: welche hat mir die Freude gegeben? welche die Hoffnung? und dennoch habe ich ausgeharrt. Ihr habt mich weinen lassen, ich habe meine Tränen getrunken; Ihr habt mich leiden lassen, ich habe meine Schmerzen verschlungen; Ihr habt mich zum Tode getrieben, ich ging auf ihn zu, ohne mich zu beklagen. Selbst in diesem Augenblick, wo Ihr den Kopf abwendet, wo jedes meiner Worte, so glühend es auch sein mag, wie ein Tropfen eiskalten Wassers auf Euer Herz zu fallen scheint, ist meine Seele von Euch erfüllt, und ich lebe nur, weil Ihr lebt. War ich nicht soeben nahe daran, neben Euch zu sterben? Was habe ich verlangt? Nichts. Habe ich Eure Hand berührt? Nie anders, als um Euch einer Todesgefahr zu entreißen. Ich hielt Euch in meinen Armen, um Euch den Wellen abzuringen, habt Ihr den Druck meiner Brust gefühlt? Nein. Ich bin nur noch eine Seele, und alles andere ist in dem verzehrenden Feuer meiner Seele geläutert worden.«
»Oh! Herr, habt Mitleid, sprecht nicht so!«
»Auch aus Mitleid verdammt mich nicht. Man hat mir gesagt, Ihr liebtet niemand; oh, wiederholt mir diese Versicherung; es ist eine seltsame Gunst, wenn ein Mensch, der liebt, sagen hören möchte, er werde nicht geliebt; doch ich ziehe das vor, da Ihr mir damit auch sagt, Ihr seid für alle unempfindlich. Oh, antwortet mir, Ihr, die Ihr die einzige Anbetung meines Lebens seid.«
Trotz Henris Drängen war ein Seufzer die einzige Antwort der jungen Frau.»Ihr sagt mir nichts,« fuhr der Graf fort. »Remy hatte wenigstens mehr Mitleid mit mir, als Ihr; er suchte mich wenigstens zu trösten! Ah! ich sehe, Ihr antwortet mir nicht, weil Ihr mir nicht sagen wollt, Ihr habet in Flandern einen aufgesucht, der glücklicher ist als ich.«
»Herr Graf,« erwiderte die junge Frau mit majestätischer Feierlichkeit, »sagt mir nicht dergleichen, wie man es einer Frau sagt; ich bin ein Wesen einer andern Welt und lebe nicht in dieser; hätte ich nicht für Euch im Grunde meines Herzens das zärtliche, süße Lächeln einer Schwester für ihren Bruder, so würde ich zu Euch sprechen: ›Steht auf, Herr Graf, und belästigt nicht mehr Ohren, die einen Abscheu vor jedem Liebeswort haben.‹ Doch ich werde nicht so zu Euch sprechen, denn es schmerzt mich, Euch leiden zu sehen. Mehr noch: nun, da ich Euch kenne, nehme ich Eure Hand, lege sie auf mein Herz und sage Euch freiwillig: ›Seht, mein Herz schlägt nicht mehr; lebt bei mir, wenn Ihr wollt, und wohnt Tag für Tag, wenn es Euch Freude macht, der schmerzlichen Zerstörung eines durch die Martern der Seele getöteten Körpers bei.‹ Doch dieses Opfer, das Ihr als ein Glück hinnehmen würdet, ich bin davon fest überzeugt...«
»Oh! ja,« rief Henri.
»Wohl! dieses Opfer muß ich zurückweisen; es hat sich heute etwas in meinem Leben verändert, und ich habe nicht mehr das Recht, mich auf irgendeinen Arm der Welt zu stützen, nicht einmal auf den dieses edlen Geschöpfes, dieses hochherzigen Freundes, der dort ruht und sich einen Augenblick des Glückes der Vergessenheit erfreut. Ach! armer Remy,« fuhr sie fort, indem sie ihrer Stimme den ersten Anklang von Gefühl gab, den Henri bei ihr wahrgenommen hatte, »armer Remy, dein Erwachen wird auch traurig sein; du folgst nicht den Fortschritten meines Gedankens, du liest nicht in meinen Augen, du weißt nicht, daß du, aus deinem Schlummer erwachend, dich allein auf Erden finden wirst, denn allein muß ich zu Gott aufsteigen.«»Was sagt Ihr?« rief Henri, »denkt Ihr denn auch daran zu sterben?«
Durch den schmerzlichen Schrei des jungen Grafen aufgeweckt, erhob Remy den Kopf und horchte.
»Ihr habt mich beten sehen?« fuhr die junge Frau fort.
Henri machte ein bejahendes Zeichen.
»Dieses Gebet war mein Abschied von der Erde; die Freude, die Ihr auf meinem Antlitz wahrgenommen, die Freude, die mich in diesem Augenblick überströmt, ist dieselbe, die Ihr an mir wahrnehmen würdet, wenn der Engel des Todes zu mir spräche: Erhebe dich, Diana, und folge mir zu den Füßen Gottes!«
»Diana! Diana!« flüsterte Henri, »ich weiß nun, wie Ihr heißt ... Diana, ein teurer, ein angebeteter Name!...«
Und der Unglückliche legte sich zu den Füßen der jungen Frau nieder und wiederholte diesen Namen mit der Trunkenheit eines unsäglichen Glückes.
»Oh! still,« sagte die junge Frau
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