Die Fuenfzig vom Abendblatt
wenn sie von Sam sprach.
An keinem Abend versäumte sie es, dem Jungen irgend etwas in die Tasche zu stecken, wenn dieser ihr lachend die neueste Ausgabe des Abendblattes vom Rad reichte. Meist war es Kuchen, den sie ihm gekauft oder besonders für ihn gebacken hatte. Denn Sam liebte Kuchen über alles.
Auch heute steckte Witwe Schreiber dem Jungen wieder eine Kekstüte zu, als sie ihm die unterschriebene Empfangsbestätigung zurückgab.
„Kannst mir ab morgen hundert mehr bringen“, meinte sie lächelnd, denn sie wußte, daß die Jungen für jede Bestellung, die über sie an den Verlag kam, Provision erhielten.
„Schönen Dank auch! Und bis morgen!“ Sam strahlte über sein ganzes Schokoladengesicht, und die Witwe Schreiber schaute dem Jungen nach, als er jetzt mit Klaus zusammen weiter die Parimontstraße hinauffuhr.
Schon auf der Rückfahrt wurde die Kekstüte der Witwe Schreiber ihrer Bestimmung zugeführt. Immer wieder flog ein Keks von Rad zu Rad. Sam grinste kauend. Klaus lächelte ebenfalls kauend zurück.
Aber dann standen sie auch schon wieder im Hof des Verlagsgebäudes, um an der Ausgaberampe ihre Ladung für die zweite Tour in Empfang zu nehmen.
Vater Verhoven
Ungefähr eine Stunde später kamen die Jungen nach und nach wieder zum Abendblatt-Hochhaus zurück. Sie stellten sich jetzt drüben vor dem Schalter an, um ihre Touren abzurechnen.
Jeder Junge hatte sein eigenes Fahrtenbuch. Diese Bücher wurden von einem Angestellten geführt, der wohl so fünfzig Jahre alt sein mochte. Bombinsky, der eine Brille trug, nahm die unterschriebenen Lieferscheine und trug die Zahl der ausgelieferten Zeitungen in die Bücher der Jungen ein. Er machte seinen Haken dahinter und den Stempel mit dem heutigen Datum.
Als Klaus Verhoven sein Fahrtenbuch wieder zurückbekommen hatte, schaute er sich um und suchte Sam. Aber der Negerjunge war noch nicht zu sehen. Da bat Klaus einen der Jungen, Sam auszurichten, daß er schon auf dem Weg nach Hause sei. Er nahm sein Rad und fuhr los.
Es hatte angefangen, leicht zu regnen. Klaus schlug den Kragen hoch. Er trug jetzt eine Jacke über dem roten Abend-blatt-Pullover. Sozusagen zum Zeichen, daß der Dienst zu Ende war.
Vor dem roten Backsteinblock der Rasmussen-Autowerke trat Klaus die Rücktrittbremse. Er stellte sein Rad an eine Plakatsäule und sprang die Stufen hinauf.
In der Eingangshalle war es ziemlich dunkel. Nur aus der Pförtnerloge fiel das Licht einer Schreibtischlampe quer über den Flur. Hier saß Vater Verhoven und wartete auf seinen Jungen. — Der etwa Fünfundvierzigjährige war auf beiden Augen blind. Vor etwa vier Jahren, als er als Dirigent und zum Teil mit eigenen Kompositionen in Genua gastiert hatte, war mitten in der Nacht in seinem Hotel ein Brand ausgebrachen. Von den Garagen her war das Feuer in einer riesigen Stichflamme auf das Gebäude übergesprungen. Noch ehe richtig Alarm geschlagen war, hatte schon alles in hellen Flammen gestanden. In dieser Nacht verlor Vater Verhoven seine Frau und eine Tochter, die damals elf Jahre alt war. Er selbst wurde zusammen mit seinem Jungen in letzter Minute gerettet. Klaus hatte, wie durch ein Wunder, nicht die geringste Brandwunde abbekommen. Aber als sein Vater nach drei Tagen im Krankenhaus wieder zu sich kam, mußten ihm die Ärzte sagen, daß er blind sei.
Verhoven war mit seinem Jungen dann wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Es war schwer, sich mit den neuen Lebensumständen abzufinden. Als Dirigent konnte er nicht mehr arbeiten. Schließlich nahm er bei den Rasmussen-Werken diese Pförtnerstelle an, die ihm ein Musiker seines ehemaligen Orchesters vermitteln konnte. Es war jetzt seine Aufgabe, allen Besuchern auf ihre Fragen nach Zimmernummern, Stockwerken, den Namen von Sachbearbeitern und Spezialabteilungen Antwort zu geben. Da er das vorliegende Verzeichnis ja nicht benutzen konnte, war die Übernahme dieser Aufgabe gar nicht einfach gewesen. An manchem Abend hatte Klaus die auswendig gelernten Listen abhören müssen. Wie die Vokabeln für eine Englischstunde. Aber jetzt hatte der Blinde eine Tätigkeit, die er sitzend ausüben konnte.
Morgens brachte Klaus seinen Vater zum Arbeitsplatz, und am Abend holte er ihn wieder ab. Dabei konnte der Junge allerdings nicht immer gerade dann in den Rasmussen-Werken sein, wenn sein Vater Dienstschluß hatte. Denn oft war Klaus um diese Zeit noch mit seinen Zeitungen unterwegs. Manchmal mußte Vater Verhoven länger als eine Stunde warten, bis
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