Die Furcht des Weisen / Band 1
nachdem, wer in dieser Nacht die erste Wachschicht übernahm.
So schlimm die Dinge auch standen, war mir doch klar, dass es noch viel schlimmer kommen konnte, wenn Ambrose herausfand, dass ich der Einbrecher gewesen war. Meine Verletzungen verheilten zwar allmählich, hätten mich aber immer noch hinlänglich belastet. Daher setzte ich alles daran, den Anschein von Normalität zu wahren.
Und so kam ich eines späten Abends hundemüde und behende wie ein Butzemann in den Schankraum des ANKER’S gestapft. Dort unternahm ich noch einen schwachen Versuch, ein bisschen mit der neuen Kellnerin zu plaudern, schnappte mir dann einen halben Laib Brot und verzog mich die Treppe hinauf.
Eine Minute später stand ich wieder unten im Schankraum, schweißgebadet und in Panik, und mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren.
Die Kellnerin sah mich an. »Na, magst du doch noch was trinken?«, fragte sie und lächelte.
Ich schüttelte so hektisch den Kopf, dass mir die Haare ins Gesicht peitschten. »Hab ich nach dem Auftritt gestern Abend meine Laute hier unten gelassen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Die hast du mitgenommen, wie immer. Weißt du nicht mehr, ich hab dich doch noch gefragt, ob du eine Schnur brauchst, um den Kasten zusammenzuhalten.«
|329| Ich schoss wieder die Treppe hinauf, flink wie ein Fisch. Und nicht mal eine Minute später war ich wieder unten. »Bist du sicher?«, fragte ich schwer atmend. »Könntest du bitte mal hinterm Tresen nachsehen, nur für alle Fälle?«
Sie sah nach, aber die Laute war nicht da. Sie war auch nicht in der Speisekammer. Und auch in der Küche war sie nicht.
Ich stieg wieder die Treppe hinauf und öffnete die Tür meiner Kammer. In einem so kleinen Raum gab es nicht viele Stellen, wo ein Lautenkasten überhaupt hinpasste. Unterm Bett war er nicht. Er lehnte auch nicht an der Wand neben meinem kleinen Schreibtisch. Und er stand auch nicht hinter der Zimmertür.
Der Lautenkasten war zu groß, als dass er in die alte Truhe am Fußende meines Betts gepasst hätte. Dennoch klappte ich sie auf und sah hinein. Da war er nicht. Ich guckte auch noch mal unter dem Bett nach, nur um ganz sicher zu gehen. Nichts.
Dann sah ich zum Fenster hinüber. Es wurde von einem ganz schlichten Riegel zugehalten, den ich stets gut geölt hielt, damit ich das Fenster von draußen leicht aufbekam.
Ich schaute noch einmal hinter der Tür nach. Dort stand der Lautenkasten immer noch nicht. Ich ließ mich auf der Bettkante nieder. War ich zuvor erschöpft gewesen, so befand ich mich nun in einem gänzlich anderen Zustand. Ich fühlte mich, als bestünde ich aus feuchtem Papier. Ich fühlte mich, als bekäme ich kaum noch Luft und als hätte mir jemand das Herz aus der Brust geraubt.
|330| Kapitel 30
Kostbarer als Salz
H eute«, verkündete Elodin frohgemut, »sprechen wir über Dinge, über die man nicht sprechen kann. Genauer gesagt, diskutieren wir darüber, warum man über manche Dinge nicht diskutieren kann.«
Ich seufzte und setzte den Bleistift ab. Jedes Mal hoffte ich aufs Neue, dass uns Elodin in seinem Seminar tatsächlich etwas beibringen würde. Jedes Mal brachte ich eine Schreibunterlage und ein paar kostbare Blätter Papier mit, um die gewonnenen Erkenntnisse sofort festzuhalten. Jedes Mal erwartete ich insgeheim, dass Elodin lachend eingestehen würde, dass sein ewiger Blödsinn nur dazu dienen sollte, unsere Entschlossenheit auf die Probe zu stellen.
Und jedes Mal wurde ich aufs Neue enttäuscht.
»Die meisten wichtigen Dinge lassen sich nicht einfach so sagen«, sagte Elodin. »Man kann sie nicht klipp und klar formulieren. Man muss sie indirekt zum Ausdruck bringen.« Er sah die Hand voll Studenten in dem fast leeren Hörsaal an. »Nennt mir etwas, das sich nicht erklären lässt.« Er deutete auf Uresh. »Los.«
Uresh überlegte einen Moment lang. »Humor. Wenn man einen Witz erst erklären muss, ist es kein Witz mehr.«
Elodin nickte und richtete den Finger auf Fenton.
»Namenskunde?«, sagte der.
»Das ist eine allzu naheliegende Antwort, Re’lar«, erwiderte Elodin mit tadelndem Unterton. »Aber da du damit das Thema meines Vortrags korrekt erkannt hast, werde ich dir das durchgehen lassen.« Er zeigte auf mich.
»Es gibt nichts, was sich nicht erklären ließe«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. »Wenn man etwas verstehen kann, kann man |331| es auch erklären. Jemand mag ja vielleicht nicht fähig sein, etwas gut zu erklären. Aber das bedeutet nur,
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