Die Furcht des Weisen / Band 1
verurteilt. Denn auch wenn eure Münder die gleiche Sprache sprechen – eure Herzen tun das keineswegs.« Er sah mich eindringlich an. »Es ist ein Übersetzungsproblem.«
Nun hob Elodin zwei Finger. »Auf dem zweiten Pfad lässt man mehr Vorsicht walten. Ihr plaudert miteinander über Kleinigkeiten – über das Wetter oder über ein Theaterstück, das ihr beide gesehen habt. Ihr verbringt viel Zeit miteinander. Ihr haltet Händchen. Und dabei lernt ihr ganz allmählich, was die Worte des anderen wirklich bedeuten. Wenn dann die Zeit gekommen ist, sich einander zu offenbaren, könnt ihr die feinsten Bedeutungsnuancen wahrnehmen, und es kann zwischen euch zu einem wirklichen Verständnis kommen.«
Nun wies Elodin mit großer Geste auf mich. »Und dann gibt es da noch den dritten Pfad. Den Pfad des Kvothe.« Er stellte sich direkt hinter mich, mit Blick auf Fela. »Du spürst etwas zwischen euch, etwas Wunderbares, Zartes.«
Er seufzte schmachtend. »Und weil dir Gewissheit in allen Lebenslagen das Wichtigste ist, beschließt du, die Sache ohne Umschweife anzugehen. Du schlägst dabei den kürzestmöglichen Weg ein, denn du denkst dir: Je einfacher, desto besser.« Elodin streckte die Hände aus und machte grapschende Bewegungen in Felas Richtung. »Und deshalb greifst du nach den Brüsten dieser jungen Frau.«
Es gab verblüfftes Auflachen, von allen, nur nicht von Fela und mir. Ich blickte finster. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und die Röte lief ihr nun auch den Hals hinab, bis unter den Ausschnitt.
Elodin wandte ihr den Rücken zu und sah mir in die Augen.
|334| »Re’lar Kvothe«, sagte er in ernstem Ton. »Ich versuche, deinen schlummernden Geist zu wecken, auf dass du die subtile Sprache verstehst, in der die Welt flüstert. Ich versuche dich zu größerem Verständnis zu verführen. Ich versuche dich etwas zu
lehren
.« Er beugte sich vor, bis sein Gesicht fast das meine berührte. »Hör auf, nach meinen Brüsten zu grapschen.«
Ich verließ Elodins Seminar miserabel gelaunt.
Aber ehrlich gesagt war ich in den vergangenen Tagen durchgehend miserabel gelaunt gewesen. Ich versuchte es zwar vor meinen Freunden zu verbergen, aber diese ganze Belastung war allmählich doch zu viel für mich.
Der Verlust meiner Laute hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Alles andere hatte ich ertragen – das Brennen auf meiner Brust, die ewigen Schmerzen in meinen Knien, den chronischen Schlafmangel und die ständige Furcht, ich könnte im falschen Moment mein Alar vernachlässigen und würde plötzlich anfangen, Blut zu spucken.
Das alles hatte ich ebenso ertragen wie meine Armut, die bittere Enttäuschung über Elodins Seminar und auch die neue, unterschwellige Furcht, die mir das Wissen einflößte, dass Devi drüben, auf der andere Seite des Flusses, auf der Lauer lag, mit einem Herzen voller Zorn, drei Tropfen von meinem Blut und einem Alar, das so stark war wie der stürmische Ozean.
Doch der Verlust meiner Laute war schlicht und einfach zu viel für mich gewesen. Es war nicht nur, dass ich sie brauchte, um mir Kost und Logis im ANKER’S zu verdienen. Und es war auch nicht nur, dass meine Fähigkeit, meinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, falls ich die Universität verlassen musste, völlig von meiner Laute abhing.
Nein. Es war ganz einfach so: Wenn ich meine Musik hatte, konnte ich alles andere ertragen. Meine Musik war der Leim, der mich zusammenhielt. Nur zwei Tage ohne meine Musik, und ich begann in die Brüche zu gehen.
Nach Elodins Seminar konnte ich den Gedanken nicht ertragen, |335| mich gleich anschließend stundenlang über eine Werkbank im Handwerkszentrum zu beugen. Allein schon bei der Vorstellung taten mir die Hände weh, und mir brannten ohnehin schon die Augen von zu wenig Schlaf.
Daher ging ich stattdessen ins ANKER’S zurück, um ein frühes Mittagsmahl zu mir zu nehmen. Ich muss einen ziemlich jämmerlichen Eindruck gemacht haben, denn Anker brachte mir zu meiner Suppe zwei Extrastreifen Speck und ein kleines Bier.
»Wie war denn das Abendessen? Wenn’s dich nicht stört, dass ich frage«, sagte Anker und lehnte sich an den Tresen.
Ich sah ihn an. »Wie bitte?«
»Mit der jungen Dame«, sagte er. »Ich stecke meine Nase nicht in die Post anderer Leute, das weißt du, aber der Bote hat den Brief kommentarlos und ohne Anschrift abgegeben. Ich musste ihn lesen, um zu sehen, für wen er war.«
Nun blickte ich Anker vollkommen verständnislos an.
Er wiederum guckte
Weitere Kostenlose Bücher