Die Furcht des Weisen / Band 1
Richtung wandte und Simmon anschaute, als wäre sie erstaunt, ihn dort sitzen zu sehen.
Nein, es war eher, als hätte er bis dahin nur ein bestimmtes Quantum Raum um sie her eingenommen, wie ein Möbelstück, wie ein Teil des Inventars. Doch als sie ihn diesmal ansah, nahm sie ihn zum ersten Mal richtig wahr. Sein rotblondes Haar, sein kantiges Kinn, seine breiten Schultern unter dem Hemd. Als sie ihn diesmal ansah,
sah
sie ihn.
Und ich muss sagen: Allein diesen Augenblick mitzuerleben, war die ganze langwierige und nervenaufreibende Suche in der Bibliothek wert. Es war das vergossene Blut und die Todesangst wert, mit anzusehen, wie sich Fela in ihn verliebte. Nur ein kleines bisschen. Es war nur der erste Anflug von Verliebtheit, so zart, dass sie es selbst wahrscheinlich gar nicht bemerkte. Es war nicht dramatisch, nichts von wegen Blitz und Donnerschlag. Es war eher, wie wenn ein Feuerstein auf Stahl trifft und der Funke fast zu schnell wieder verfliegt, um überhaupt wahrgenommen zu werden, man aber dennoch weiß, dass es ihn gegeben hat und er nun drunten, wo man nicht hinsehen kann, ein Feuer entfacht.
»Wer hat dir denn alt-vintische Gedichte vorgelesen?«, fragte Wil. Fela blinzelte und wandte sich wieder dem Buch zu.
»Puppet«, sagte Sim. »Als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin.«
»Puppet!« Wil schien drauf und dran, sich die Haare auszuraufen. »Himmel Herrgott, wieso sind wir nicht gleich damit zu ihm gegangen? Wenn es von diesem Werk eine aturische Übersetzung gibt, weiß er garantiert, wo sie steht!«
|326| »Das habe ich in den letzten Tagen auch oft gedacht«, sagte Simmon. »Aber es geht ihm in letzter Zeit nicht gut. Er wäre uns keine große Hilfe.«
»Außerdem weiß Puppet, was auf der Schwarzen Liste steht«, sagte Fela. »Und ich bezweifle mal, dass er das einfach so ausplaudern würde.«
»Kennen denn wirklich alle außer mir diesen Puppet?«, fragte ich.
»Wenn man in der Bibliothek arbeitet, kennt man ihn«, sagte Wilem.
»Ich glaube, das Meiste davon kann ich mir zusammenreimen«, sagte Simmon und sah zu mir herüber. »Ergibt dieses Diagramm für dich irgend einen Sinn? Das verstehe ich nämlich überhaupt nicht.«
»Das da sind die Runen«, sagte ich und zeigte darauf. »Ganz eindeutig. Und das sind metallurgische Symbole.« Ich sah es mir genauer an. »Aber das andere da … Keine Ahnung. Vielleicht irgendwelche Abkürzungen. Aber das können wir wahrscheinlich nach und nach entschlüsseln.«
Ich lächelte und wandte mich wieder an Fela. »Herzlichen Glückwunsch! Du bist immer noch die beste Bibliothekarin aller Zeiten!«
Mit Simmons Hilfe entzifferte ich innerhalb von zwei Tagen die Diagramme in dem
Scrivani -Band
. Genauer gesagt, kostete uns die Entzifferung selbst nur einen Tag, doch dann setzten wir noch einen weiteren Tag daran, alles noch einmal doppelt und dreifach zu überprüfen.
Als ich dann wusste, wie ich mir ein Gram bauen konnte, begann ich ein sonderbares Versteckspiel mit Ambrose. Für die Sygaldrie des Gram brauchte ich meine ungeteilte Konzentration, und das bedeutete, dass ich während der Arbeit daran meinen Selbstschutz vernachlässigen musste. Ich konnte also nur dann an dem Gram arbeiten, wenn ich sicher sein konnte, dass Ambrose gerade anderweitig beschäftigt war.
Das Gram erforderte viel Feinarbeit, ich musste winzige Gravuren vornehmen, bei denen keinerlei Spielraum für Fehler bestand. Es |327| war dabei nicht gerade förderlich, dass ich mir meine Arbeitszeit zusammenstückeln musste: Eine halbe Stunde, während Ambrose mit einer jungen Frau in einem Kaffeehaus saß, vierzig Minuten, während er eine Vorlesung über symbolische Logik besuchte, anderthalb Stunden, während er seinen Dienst am Bibliotheksempfang versah.
Wenn ich gerade nicht an meinem Gram arbeiten konnte, arbeitete ich an meinem Projekt für Kilvin. In mancher Hinsicht war es ein Glück gewesen, dass er mich beauftragt hatte, etwas zu bauen, das eines Re’lar würdig war. Das lieferte mir den perfekten Vorwand, um sehr viel Zeit im Handwerkszentrum zu verbringen.
In der Zeit, die mir daneben noch blieb, hockte ich viel im Schankraum des GOLDENEN PONY herum. Ich musste mich dort als Stammgast etablieren. Auf diese Weise würde manches weniger verdächtig wirken.
|328| Kapitel 29
Lautenraub
J eden Abend zog ich mich in meine Dachkammer im ANKER’S zurück, schloss die Tür hinter mir ab, stieg aus dem Fenster und schlich entweder in Wils oder in Sims Zimmer, je
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