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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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anderen Passagiere aussteigen, beugte mich noch einmal über das Geländer und blickte in die Tiefe hinunter.
    »Mein Herr?«, fragte der Liftboy ein wenig ungeduldig. »Alles aussteigen.«
    Ich drehte mich um und stieg aus. An der Spitze der oben anstehenden Schlange sah ich Denna.
    Ich starrte sie sprachlos an. Bevor ich noch reagieren konnte, hob sie den Kopf und entdeckte mich. Ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Sie rief meinen Namen, eilte auf mich zu, und ehe ich mich versah, hatte sie sich schon an meine Brust geworfen. Ich nahm sie in die Arme und legte die Wange an ihr Ohr. Wir schmiegten uns aneinander wie Tänzer, als hätten wir jede Bewegung schon tausendmal geübt. Dennas Körper fühlte sich warm und weich an.
    »Was tust du hier?«, fragte sie. Ihr Herz raste, und ich spürte jeden einzelnen Schlag an meiner Brust.
    Ich brachte immer noch keinen Ton heraus. Denna trat einen Schritt zurück. Erst jetzt bemerkte ich einen alten, bereits gelblich verfärbten Bluterguss auf ihrer Wange. Trotzdem hätte ich mir nach zwei Monaten und tausend Meilen keinen schöneren Anblick als Denna vorstellen können. »Was tust
du
hier?«, fragte ich.
    Sie lachte ihr silberhelles Lachen und fasste mich am Arm. Doch dann wanderte ihr Blick über meine Schulter, und Bestürzung malte sich auf ihrem Gesicht. »Warte!«, rief sie dem Jungen zu, der gerade das Gatter des Lifts schließen wollte. »Ich muss mitfahren, sonst komme ich zu spät.« Sie warf mir einen verzweifelten, um Entschuldigung bittenden Blick zu und ging an mir vorbei in den Lift. »Du wirst mich finden.«
    Der Junge schloss das Gatter hinter ihr, und der Lift entfernte sich langsam in die Tiefe. Verloren blickte ich ihr nach. »Wo soll ich dich suchen?« Ich trat näher an den Rand der Station.
    Sie blickte zu mir auf. Ihr Gesicht hob sich weiß vor dem abendlichen Dunkel ab, ihre Haare waren nur als schwarzer Schatten zu |583| erkennen. »In der Spenglerstraße, zwei Straßen nördlich der Hauptstraße.«
    Die Nacht schluckte sie, und ich blieb allein zurück. Dennas Geruch hüllte mich ein. Meine Hände waren noch warm von ihr, und ich spürte ihr Herz, das zitternd wie ein gefangener Vogel an meiner Brust geschlagen hatte.

|584| Kapitel 61
Taubnessel
    I ch kehrte in die Burg zurück, brachte meine Laute in mein Zimmer und begab mich alsbald auf dem schnellsten Weg zu Alverons privaten Gemächern. Stapes war nicht erfreut, mich zu sehen, führte mich aber mit seiner gewohnten Beflissenheit hinein.
    Alveron lag schweißnass und benommen in seinen zerwühlten Laken. Ich bemerkte erst bei dieser Gelegenheit, wie ausgemergelt er war. Arme und Beine bestanden nur mehr aus Haut und Knochen, und die Haut hatte einen grauen Ton angenommen. Er blickte mir bei meinem Eintreten finster entgegen.
    Stapes deckte ihn hastig ein wenig besser zu, half ihm, sich aufzusetzen, und schob ihm ein Kissen unter den Rücken. Der Maer erduldete seine Fürsorge mit unbewegter Miene und entließ ihn schließlich mit den Worten: »Danke, Stapes.« Der Kammerdiener warf mir einen letzten, entschieden unfreundlichen Blick zu und entfernte sich widerwillig.
    Ich trat an das Bett des Maer und zog verschiedene Päckchen aus den Taschen meines Mantels. »Ich habe alles gefunden, was ich benötige, Euer Gnaden, wenn auch nicht alles, was ich zu finden hoffte. Wie geht es Euch?«
    Sein Blick sprach Bände. »Du hast verdammt lange gebraucht. Caudicus kam, während du weg warst.«
    Ich unterdrückte meinen Schrecken nur mühsam. »Was wollte er?«
    »Er fragte nach meinem Befinden, und ich sagte ihm die Wahrheit. Er sah mir in die Augen und in den Hals und fragte, ob ich erbrochen hätte. Ich bejahte und sagte, ich bräuchte weitere Arznei und wolle |585| dann in Ruhe gelassen werden. Er ging wieder und schickte mir die Arznei.«
    In mir stieg Panik auf. »Habt Ihr sie genommen?«
    »Wenn du noch länger weggeblieben wärst, hätte ich das vielleicht getan und dich und deine Märchen zur Hölle geschickt.« Der Maer zog ein volles Fläschchen unter seinem Kopfkissen hervor. »Ich verstehe nicht, was es mir schaden kann. Ich habe das Gefühl, dass ich schon jetzt sterbe.« Er hielt mir das Fläschchen wütend hin.
    »Ich glaube, ich kann Euch helfen, Euer Gnaden. Denkt daran, die kommende Nacht wird die schlimmste sein. Morgen ist auch noch schlimm, danach müsste es Euch besser gehen.«
    »Wenn ich dann noch lebe«, stöhnte er.
    Natürlich war das nur das Gejammer eines Kranken, aber

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