Die Furcht des Weisen / Band 1
sprichst.«
»Ich spreche mit einem Kranken, der seine Arznei nicht einnehmen will«, erwiderte ich.
In seinen vom Laudanum schläfrig gewordenen Augen blitzte Wut auf. »Eine Flasche Fischöl ist keine Arznei«, fauchte er, »sondern eine böswillige Zumutung. Ich trinke den Lebertran nicht.«
Ich sah ihn so verächtlich an, wie ich nur konnte, nahm das Fläschchen und trank es, ohne den Blick von ihm abzuwenden, in einem Zug leer. Sein Zorn wich der Abscheu und schließlich einer resignierten, widerstrebenden Anerkennung. Zuletzt drehte ich das Fläschchen auf den Kopf, fuhr mit dem Finger einmal innen herum und leckte ihn ab.
Dann zog ich ein zweites Fläschchen aus meinem Mantel. »Das sollte eigentlich die Portion für morgen sein, aber jetzt müsst Ihr sie heute Nacht schon trinken. Wenn es Euch leichter fällt, könnt Ihr auch einen Schluck alle zwei Stunden nehmen.« Ich hielt ihm das Fläschchen hin, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Er ergriff es stumm, nahm zwei gute Schlucke und stieß den |588| Stöpsel grimmig wieder hinein. Beim Adel erreicht man mit Stolz immer mehr als mit Vernunft.
Ich kramte in den Taschen meines weinroten Mantels und zog den Ring des Maer heraus. »Ich vergaß, Euch den zurückzugeben.« Ich hielt ihm den Ring hin.
Er wollte ihn nehmen, überlegte es sich aber anders. »Behalte ihn vorerst«, sagte er. »Du hast ihn dir wohl verdient.«
»Danke, Euer Gnaden«, antwortete ich, ohne eine Miene zu verziehen. Er forderte mich zwar nicht auf, den Ring zu tragen, aber ich durfte ihn behalten, was immerhin einen deutlichen Fortschritt in unserer Beziehung bedeutete. Wie auch immer sein Werben um Lady Lackless ausgehen mochte, heute hatte ich ihn beeindruckt.
Ich schenkte ihm eine weitere Tasse Tee ein und erteilte dann meine restlichen Anweisungen, solange er mir noch zuhörte. »Heute Nacht solltet Ihr den restlichen Tee trinken, Euer Gnaden. Schickt nach mir, wenn ich Euch neuen zubereiten soll. Ihr solltet im Lauf der Nacht überhaupt so viel Flüssigkeit zu Euch nehmen, wie Ihr nur könnt. Am besten geeignet ist Milch. Gebt etwas Honig hinein, dann bekommt Ihr sie leichter hinunter.«
Er nickte und schien kurz davor einzunicken. Da ich wusste, wie schwierig die Nacht werden würde, ließ ich es zu. Ich sammelte meine Sachen ein und ging.
Stapes wartete im Vorzimmer. Ich sagte ihm, der Maer schlafe, und bat ihn, den Tee nicht wegzuschütten, da Seine Gnaden ihn beim Aufwachen noch trinken werde.
Der Blick, mit dem Stapes mich verabschiedete, war nicht bloß unfreundlich wie zuvor, sondern geradezu hasserfüllt. Erst als er die Tür hinter mir geschlossen hatte, begriff ich, was er glauben musste: dass ich nämlich versuchte, aus der Schwäche des Maer meinen Vorteil zu schlagen, wie viele Menschen es tun würden. Zum Beispiel reisende Ärzte, die keine Skrupel haben, die Ängste der Schwerkranken für sich auszunützen. Das beste Beispiel dafür ist der Quacksalber namens Taubnessel, der mit seinen Zaubertränken in dem Stück
Drei Wünsche frei
auftritt. Er ist eine der schimpflichsten Gestalten der gesamten Theaterliteratur, und jedes Publikum der Welt klatscht laut Beifall, wenn er im vierten Akt an den Pranger gestellt wird.
|589| Ich wandte mich in Gedanken wieder dem hinfälligen Aussehen des Maer zu. In Tarbean hatte ich erlebt, wie gesunde junge Männer am Entzug von Ophalum gestorben waren. Der Maer war weder jung noch gesund.
Wem würde man die Schuld geben, wenn er starb? Bestimmt nicht Caudicus, dem langjährigen Leibarzt. Und gewiss auch nicht Stapes, dem treuen Kammerdiener …
Sondern mir. Man würde mir die Schuld geben. Der Zustand des Maer hatte sich auch tatsächlich kurz nach meiner Ankunft verschlechtert. Stapes würde gewiss sofort lauthals verkünden, dass ich mit dem Maer allein im Zimmer gewesen sei. Dass ich ihm kurz vor jener schrecklichen Nacht noch Tee gekocht hätte.
Im besten Fall würde man mich wie Taubnessel für einen gewissenlosen Quacksalber halten. Im schlimmsten für einen Mörder.
In solche Gedanken versunken kehrte ich in meine Unterkunft zurück. Unterwegs blieb ich an einem Fenster mit Blick auf die Unterstadt stehen und erbrach einen Viertelliter Lebertran.
|590| Kapitel 62
Krise
A m folgenden Morgen war ich bereits vor Sonnenaufgang auf dem Weg in die Stadt. Ich frühstückte warm mit Eiern und Kartoffeln und wartete darauf, dass eine Apotheke öffnete. Nach dem Frühstück kaufte ich zwei weitere Fläschchen Lebertran
Weitere Kostenlose Bücher