Die Furcht des Weisen / Band 1
chaotisches Meer erleuchteter Fenster und Straßenlaternen, aus dem hin und wieder das helle Licht einer Sympathielampe herausstach.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Denna leise.
Wir hatten das Lichtermeer eine Viertelstunde lang stumm betrachtet. Setzte sie ein Gespräch fort, das wir davor geführt hatten? Ich konnte mich nicht daran erinnern. »Wie bitte?«
|655| Denna schwieg, und ich sah sie an. Der Mond schien nicht, und die Nacht war dunkel. Der von der Stadt heraufdringende Schein erhellte ein wenig ihr Gesicht.
»Manchmal verschwinde ich einfach über Nacht«, sagte sie schließlich. »Ganz still und leise.«
Sie sah dabei nicht mich an, sondern auf die Stadt. »So ist das einfach«, fuhr sie fort. »Ich verschwinde ohne Ankündigung oder Vorwarnung und ohne nachträgliche Erklärung. Manchmal bleibt mir nichts anderes übrig.«
Nun erwiderte sie meinen Blick. Ihr Gesicht war ernst. »Du verstehst das hoffentlich, ohne dass ich es dir erklären muss …«
Sie wandte sich wieder dem Lichtermeer unter uns zu. »Aber es tut mir leid.«
Dann saßen wir wieder in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander. Ich wollte etwas sagen, zum Beispiel, dass ihr Verschwinden mir nichts ausmachte, aber das wäre eine Lüge gewesen. Ich wollte ihr sagen, für mich zähle im Grunde nur, dass sie wieder zurückkehrte, fürchtete aber, damit schon zu viel der Wahrheit zu sagen.
Statt zu riskieren, das Falsche zu sagen, schwieg ich also lieber. Ich wusste, was mit Männern geschah, die sich zu fest an sie klammerten, genau darin unterschied ich mich ja von ihnen. Ich klammerte mich nicht an Denna fest, wollte sie nicht besitzen. Ich legte ihr nicht den Arm um die Schultern oder murmelte ihr etwas ins Ohr und küsste sie auch nicht unaufgefordert auf die Wange.
Natürlich dachte ich daran. Ich spürte immer noch ihre Wärme, als sie beim Pferdelift die Arme um mich geschlungen hatte. Manchmal hätte ich meine rechte Hand darum gegeben, sie wieder halten zu dürfen.
Doch dann sah ich die Gesichter der anderen Männer vor mir, als sie gemerkt hatten, dass Denna sie verlassen würde. Ich dachte daran, wie sie Denna hatten festhalten wollen und sie doch verloren hatten. Also widerstand ich der Versuchung, Denna die Lieder und Gedichte zu zeigen, die ich geschrieben hatte. Ich wusste, wie zerstörerisch zu viel Wahrheit sein kann.
Und wenn das bedeutete, dass sie mir nicht ganz gehören konnte, was kümmerte es mich? Zu mir konnte sie immer zurückkehren, |656| ohne Vorwürfe oder Fragen fürchten zu müssen. Ich versuchte also nicht, sie zu gewinnen, sondern begnügte mich mit einem schönen Spiel.
Ein Teil von mir hoffte freilich immer auf mehr. Ein Teil von mir blieb ein unbelehrbarer Narr.
Die Tage vergingen. Denna und ich erkundeten die Straßen der Stadt. Wir saßen in Cafés, sahen uns Theaterstücke an und gingen reiten. Wir stiegen die Treppe der Bastion hinauf, nur um sagen zu können, dass wir es getan hatten. Wir besuchten den Markt am Hafen, einen Wanderzirkus und verschiedene Kuriositätenkabinette.
An manchen Tagen saßen wir auch nur da und redeten. Unser liebstes Gesprächsthema war die Musik.
Wir redeten uns stundenlang die Köpfe heiß über den Aufbau von Liedern, den Unterschied von Strophe und Refrain und die Bedeutung von Klang, Tonart und Takt.
Ich beschäftigte mich bereits seit meiner frühen Kindheit mit diesen Dingen. Für Denna waren sie neu, doch wirkte sich das in gewisser Weise vorteilhaft aus.
Ich war mit Musik in Berührung gekommen, noch bevor ich sprechen konnte, und kannte Tausende Melodien und Gedichte in- und auswendig. Denna nicht. Das war einerseits ein Nachteil, andererseits verlieh es ihrer Musik etwas Unverwechselbares und Einzigartiges …
Doch ich drücke mich schlecht aus. Man stelle sich Musik vor wie das unübersehbare Gewimmel einer Stadt wie Tarbean. Ich hatte diese Stadt in den Jahren, die ich dort gelebt habe, gründlich kennen gelernt. Nicht nur die Hauptstraßen und die kleinen Gassen, sondern auch Schleichwege, Dächer und Teile der Kanalisation. Deshalb fand ich mich dort praktisch mit geschlossenen Augen zurecht.
Denna dagegen hatte keine musikalische Ausbildung und kannte keine Schleichwege. Man könnte meinen, sie sei deshalb hilflos und verloren durch die Stadt geirrt, gefangen in einem Labyrinth aus Mörtel und Stein.
|657| Doch stattdessen ging sie einfach durch Mauern und Wände. Sie wusste es ja nicht besser. Niemand hatte ihr je gesagt, dass man
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