Die Furcht des Weisen / Band 1
Herzens.
Die meisten Geheimnisse sind ihm zufolge Geheimnisse des Mundes, Klatsch und Skandalgeschichten, die im Flüsterton weitergegeben werden. Diese Geheimnisse drängen danach, sich auszubreiten. Ein Geheimnis des Mundes ist wie ein Steinchen im Stiefel. Man nimmt es zuerst kaum wahr, dann stört es immer mehr und wird schließlich unerträglich. Solche Geheimnisse wachsen, je länger man sie für sich behält. Sie quellen auf, bis sie von innen gegen die Lippen drücken, und wollen unbedingt nach draußen gelangen.
Geheimnisse des Herzens sind anders. Sie sind etwas sehr Privates und Schmerzhaftes, und wir wollen sie unbedingt vor anderen verbergen. Sie wachsen nicht und drücken nicht gegen die Lippen. Sie |686| sitzen im Herzen, und je länger man sie für sich behält, desto schwerer wiegen sie.
Teccam behauptet, ein Mund voller Gift sei besser als ein Geheimnis des Herzens. Auch der Dümmste wird das Gift ausspucken, während wir unsere »schmerzhaften Schätze« mit uns herumschleppen. Wir schlucken sie täglich erneut hinunter und zwingen sie in unser Innerstes. Dort werden sie immer schwerer und fangen an zu eitern. Und wenn nur genügend Zeit vergeht, zerstören sie unweigerlich das Herz, das sie umschließt.
Moderne Philosophen schätzen Teccam gering, aber sie sind wie Geier, die auf den Knochen eines Riesen herumhacken. Man kann es drehen und wenden, wie man will, Teccam hatte tiefe Einsichten in das Wesen der Dinge.
Am Tag nachdem ich Denna durch die Stadt gefolgt war, bestellte sie mich zu sich. Wir trafen uns vor den VIER KERZEN. Dort hatten wir uns in den vergangenen Spannen schon Dutzende Male verabredet, aber diesmal war etwas anders. Denna trug ein langes, elegantes Kleid, nicht aus mehreren Stoffschichten und hochgeschlossen, wie es der gegenwärtigen Mode entsprach, sondern eng anliegend und am Hals offen. Es war leuchtend blau, und ich sah bei jedem Schritt, den sie machte, für einen kurzen Augenblick etwas von ihrem nackten Bein.
Der Kasten ihrer Harfe lehnte hinter ihr an der Mauer und ihre Augen leuchteten erwartungsvoll. Ihre dunklen Haare, die sie abgesehen von drei schmalen, mit einer blauen Schnur befestigten Zöpfen schmucklos trug, glänzten in der Sonne. Sie war barfuß und ihre Füße hatten vom Gras grüne Flecken. Und sie lächelte.
»Ich bin bereit«, sagte sie, und Erregung bebte wie ferner Donner in ihrer Stimme. »Jedenfalls soweit bereit, dass ich dir ein Stück vorspielen kann. Möchtest du es hören?« Ich hörte ein wenig Schüchternheit aus ihrer Stimme heraus, die sie allerdings gut überspielte.
Da wir beide für Schirmherrn tätig waren, die sehr viel Wert auf ihre Privatsphäre legten, sprachen wir nur selten über unsere Arbeit. |687| Wir zeigten uns höchstens unsere Finger, die von der Tinte fleckig waren, und jammerten in allgemeinen Worten über unsere Schwierigkeiten.
»Nichts lieber als das«, sagte ich jetzt. Denna nahm ihren Harfenkasten auf und setzte sich in Bewegung. Ich ging neben ihr her. »Hat dein Schirmherr denn nichts dagegen?«
Sie zuckte übertrieben beiläufig mit den Schultern. »Wenn es nach ihm ginge, soll mein erstes Lied auch noch in hundert Jahren gesungen werden. Er wird also bestimmt nicht wollen, dass ich es für alle Zeiten geheim halte.« Sie sah mich von der Seite an. »Wir gehen an einen Ort, an dem wir ungestört sind, und ich spiele dir das Lied vor. Solange du es nicht an die große Glocke hängst, kann mir nichts passieren.«
Wir schlugen in stummem Einvernehmen den Weg zum westlichen Stadttor ein. »Ich hätte meine Laute mitgebracht«, sagte ich, »aber ich habe endlich einen Lautenbauer gefunden, dem ich vertraue, und lasse den losen Wirbel reparieren.«
»Heute bist du mir als Zuhörer am nützlichsten«, antwortete Denna. »Du sollst verzückt vor mir sitzen, während ich spiele. Morgen höre ich dann dir mit vor Bewunderung feuchten Augen zu und bewundere dein Können und deinen Witz und Charme.« Sie verlagerte die Harfe auf die andere Schulter und lächelte verschmitzt. »Vorausgesetzt, du lässt das alles nicht auch beim Lautenbauer reparieren.«
»Ich wäre jederzeit zu einem Duett bereit«, sagte ich. »Die Kombination von Harfe und Laute ist selten, aber nicht gänzlich unbekannt.«
»Das hast du sehr schön gesagt.« Denna warf mir wieder einen Blick zu. »Ich denke darüber nach.«
Ich unterdrückte wie schon so oft den Drang, ihr von dem Ring zu erzählen, den ich von Ambrose zurückgeholt hatte.
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