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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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der Straße werden die Leute auf dich zeigen und tuscheln. Du wirst es schwer haben, einen Mann zu finden, und du wirst Freundinnen verlieren. Aber diesen Preis musst du zahlen, wenn du dein bisheriges Leben zurückhaben willst.«
    Die Münzen wurden klirrend wieder eingesammelt. »Dritte Möglichkeit: Wenn du unbedingt weiter als Hure arbeiten willst, müssen wir wenigstens dafür sorgen, dass du nicht tot im Straßengraben |683| endest. Du hast ein hübsches Lärvchen, aber du brauchst die richtigen Kleider.« Münzen wanderten über den Tisch. »Und jemanden, der dir Benehmen beibringt.« Weitere Münzen. »Und jemanden, der deine Aussprache verbessert.« Münzen.
    Murmeln.
    »Weil du nur so Aussicht auf Erfolg hast«, erwiderte Denna entschieden.
    Erneutes Murmeln.
    Denna seufzte verärgert. »Also gut, der Stallmeister deines Vaters, ja? Denk an die vielen verschiedenen Pferde, die der Baron besitzt: Ackergäule, Kutschpferde, Jagdpferde …«
    Erregtes Murmeln.
    »Genau«, sagte Denna. »Wenn du also die Wahl hättest, welches Pferd wolltest du sein? Ein Ackergaul verrichtet schwere Arbeit, aber bekommt er den besten Stall? Das beste Futter?«
    Murmeln.
    »Stimmt, das bekommen die edlen Vollblüter. Sie werden verwöhnt und müssen nur arbeiten, wenn eine Parade oder Jagd ansteht.« Denna machte eine kurze Pause. »Wenn du also eine Hure sein willst, musst du es richtig anstellen. Du willst keine billige Hafennutte sein, sondern eine Herzogin. Die Männer sollen dir den Hof machen und dir Geschenke schicken.«
    Ein Murmeln.
    »Ja, Geschenke. Wenn sie dich bezahlen, haben sie das Gefühl, dich zu besitzen. Und wohin das führt, hast du heute Abend erlebt. Du kannst entweder deine Aussprache und das Leibchen mit dem tiefen Ausschnitt behalten und dich für einen Halbpenny von Matrosen begrapschen und flachlegen lassen. Oder du lernst dich zu benehmen, lässt dir die Haare richten und empfängst feine Herren als Freier. Wenn du interessant und hübsch bist und zuhören kannst, werden die Männer deine Gesellschaft suchen. Sie werden mit dir nicht nur ins Bett gehen, sondern auch tanzen wollen. Dann bist du es, die über sie bestimmt. Eine Herzogin muss nie im Voraus für ihr Zimmer bezahlen. Niemand legt eine Herzogin in einer dunklen Gasse über ein Fass und schlägt ihr, wenn er sein Vergnügen gehabt hat, die Zähne aus.«
    |684| Murmeln.
    »Nein«, erwiderte Denna grimmig. Die Münzen wurden klimpernd in eine Geldbörse gesteckt. »Mach dir nichts vor. Auch das schönste Pferd bleibt immer ein Pferd. Das heißt, früher oder später wird man dich reiten.«
    Ein fragendes Murmeln.
    »Dann gehst du«, sagte Denna. »Wenn sie mehr wollen, als du zu geben bereit bist, bleibt dir nichts anderes übrig. Du verschwindest heimlich und leise über Nacht. Aber damit brichst du alle Brücken hinter dir ab. Das ist der Preis, den du dafür zahlst.«
    Ein zögerndes Murmeln.
    »Das kann ich dir nicht sagen. Du musst selbst entscheiden, was du willst. Willst du nach Hause zurückkehren? Das hat seinen Preis. Willst du dein Leben selbst in die Hand nehmen? Auch das hat seinen Preis. Willst du die Freiheit haben, etwas abzulehnen? Auch das kostet etwas. Alles hat seinen Preis.«
    Ein Stuhl wurde vom Tisch zurückgeschoben, und ich hörte die beiden aufstehen. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand. »So etwas muss jeder mit sich selbst ausmachen«, sagte Denna. Ihre Stimme entfernte sich. »Was willst du am meisten? Was wünschst du dir so dringend, dass du alles dafür zu geben bereit bist?«
    Ich blieb noch lange sitzen, nachdem die beiden gegangen waren, und versuchte meinen Wein zu trinken.

|685| Kapitel 73
Blut und Tinte
    T eccam nennt in seiner
Theophanie
Geheimnisse die schmerzhaften Schätze des Geistes. Was herkömmlicherweise als Geheimnis gelte, habe in Wirklichkeit nichts damit zu tun. Rätsel etwa seien keine Geheimnisse, ebenso wenig wie kaum bekannte Tatsachen oder vergessene Wahrheiten. Ein Geheimnis, erklärt Teccam, sei absichtlich verheimlichtes Wissen.
    Die Philosophen streiten sich seit Jahrhunderten über diese Definition. Sie haben logische Unstimmigkeiten, Lücken und Ausnahmen dagegen ins Feld geführt. Doch keiner konnte mit einer besseren Definition aufwarten, was vielleicht mehr sagt als der ganze Zank darüber.
    In einem späteren, weniger bekannten und umstrittenen Kapitel seines Werkes unterscheidet Teccam zwischen zwei Arten von Geheimnissen: solchen des Mundes und solchen des

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