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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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verraten.
     
    Zuerst hielt ich den Atem wegen Dennas Stimme an, dann wegen der Musik.
    Doch noch bevor sie zehn Verse gesungen hatte, erstarrte ich aus einem ganz anderen Grund. Denna sang vom Fall der Stadt Myr Tariniel, von Lanres Verrat, dieselbe Geschichte, die ich in Tarbean von Skarpi gehört hatte.
    Nur in einer anderen Fassung. Bei Denna erschien Lanre als tragischer Held, der selbst dem Verrat zum Opfer fiel. Selitos’ Worte waren grausam und verletzend, Myr Tariniel war ein Sündenpfuhl, der nur durch das Feuer geläutert werden konnte. Lanre war kein Verräter, sondern ein gefallener Held.
    Es hängt ja so viel davon ab, an welcher Stelle man eine Geschichte beendet. Dennas Geschichte schloss mit der Verfluchung Lanres durch Selitos. Für eine Tragödie passte ein solches Ende hervorragend. In Dennas Lied wurde Lanre missverstanden, ihm wurde Unrecht getan. Selitos war ein Tyrann und Wahnsinniger, der sich aus Wut über Lanres List selbst das Auge ausriss. Die ganze Geschichte war auf schreckliche Weise entstellt und in ihr Gegenteil verkehrt.
    Trotzdem konnte man die bezwingende Schönheit des Liedes bereits erahnen. Die Akkorde waren wohl gewählt, der Rhythmus raffiniert und drängend. Es war ein originelles Lied, zwar mit vielen unfertigen Stellen, aber einer erkennbaren Form. Ich sah, was daraus werden konnte. Es konnte tiefe Gefühle wecken. Die Menschen würden es auch in hundert Jahren noch singen.
    Ihr kennt es wahrscheinlich, wie die meisten. Denna nannte es zuletzt das
Lied von den sieben Sorgen
. Ja, Denna hat es komponiert, und ich war der Erste, der es ganz hören durfte.
    |693| Die letzten Töne verklangen, und Denna senkte die Hände, ohne mich anzusehen.
    Ich saß stumm da.
    Um das Folgende zu verstehen, muss man etwas kennen, das jeder Musiker kennt. Ein neues Lied zu singen ist eine sehr aufregende Angelegenheit. Mehr noch, es ist eine schreckliche Erfahrung. Als ob man sich das erste Mal vor einem neuen Liebhaber entkleidet. Es ist ein sehr heikler Moment.
    Ich musste etwas sagen. Ein Kompliment machen, eine Bemerkung, einen Scherz. Oder lügen. Alles war besser als zu schweigen.
    Aber ich hätte nicht erschrockener sein können, wenn Denna eine Lobeshymne auf den Herzog von Gibea geschrieben hätte. Ich war noch wie betäubt, fühlte mich wund und roh wie zum zweiten Mal verwendetes Pergament, so als hätte jede Note des Liedes wie ein Messer an mir gekratzt, bis aller Text gelöscht und ich wieder ein leeres Blatt war.
    Benommen starrte ich auf meine Hände. Sie hielten noch den halben Kranz aus Gras, den ich zu Anfang des Liedes geflochten hatte, einen breiten, flachen Zopf, der sich bereits zum Ring formte.
    Immer noch mit gesenktem Kopf hörte ich, wie Denna sich bewegte und ihr Gewand raschelte. Ich musste etwas sagen, ich zögerte schon zu lange. Das Schweigen drohte übermächtig zu werden.
    »Die Stadt hieß nicht Mirinitel«, sagte ich, ohne den Kopf zu heben. Was ich sagte, war nicht ganz verkehrt, aber auch nicht richtig.
    Eine Pause entstand. »Was?«
    »Nicht Mirinitel«, wiederholte ich. »Die Stadt, die Lanre niederbrannte, hieß Myr Tariniel. Tut mir leid. Einen Namen zu ändern macht viel Arbeit. Er macht bei einem Drittel deiner Verse den Rhythmus kaputt.« Ich war überrascht, wie ruhig meine Stimme war, wie unbewegt und leblos sie in meinen Ohren klang.
    Ich hörte Denna überrascht einatmen. »Du kennst die Geschichte?«
    Ich hob den Kopf. Denna sah mich aufgeregt an. Ich nickte und fühlte mich immer noch seltsam leer. Hohl wie ein getrockneter Kürbis. »Warum hast du dein Lied ausgerechnet darüber geschrieben?«, fragte ich.
    |694| Wieder war das, was ich sagte, falsch. Ich habe das bestimmte Gefühl, wenn ich damals das Richtige gesagt hätte, wäre alles anders gekommen. Aber sogar heute noch, nach so vielen Jahren, wüsste ich nicht, was ich hätte sagen können.
    Dennas Aufregung legte sich ein wenig. »Ich habe Ahnenforschung für meinen Schirmherrn betrieben und bin in einem alten Buch auf diese Geschichte gestoßen«, sagte sie. »Kaum jemand kennt sie noch, deshalb ist sie für ein Lied bestens geeignet. Es ist ja nicht so, dass wir noch ein Lied über Oren Velciter bräuchten. Wenn ich nur wiederhole, was Musiker vor mir schon hundert Mal durchgekaut haben, komme ich nie auf einen grünen Zweig.«
    Sie sah mich neugierig an. »Ich dachte, ich könnte dich mit etwas Neuem überraschen. Nie hätte ich erwartet, dass du Lanre schon kennst.«
    »Ich habe

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