Die Furcht des Weisen / Band 1
vor Jahren von einem alten Geschichtenerzähler in Tarbean von ihm gehört«, sagte ich wie benommen.
»Dein Glück hätte ich auch gern gehabt.« Denna schüttelte den Kopf. »Ich musste mir die Geschichte aus hundert Fetzen zusammenklauben.« Sie machte eine einschränkende Handbewegung. »Zusammen mit meinem Schirmherrn. Er hat mir geholfen.«
»Mit deinem Schirmherrn«, wiederholte ich. In mir regte sich etwas. Angesichts meiner inneren Leere war ich überrascht, wie schnell sich auf einmal Bitterkeit in mir ausbreitete, geradezu als hätte jemand ein Feuer in mir entzündet.
Denna nickte. »Er betreibt selbst gern historische Studien. Ich glaube, er ist auf eine Stellung bei Hof aus. Er wäre nicht der Erste, der sich beliebt machen will, indem er die Heldentaten eines längst vergessenen Ahnen wieder ins rechte Licht rückt. Oder vielleicht will er ja nur für sich selbst einen bedeutenden Vorfahren erschaffen. Das würde erklären, warum wir uns mit alten Stammbäumen beschäftigten.«
Sie zögerte einen Moment und biss sich auf die Lippen. »Ich habe nämlich den Verdacht«, sagte sie dann, und es klang wie eine Beichte, »dass das Lied für Alveron persönlich gedacht ist. Lord Esche hat angedeutet, dass er mit dem Maer zu tun hat.« Sie grinste verschmitzt. »Wer weiß, vielleicht bist du in den Kreisen, in denen |695| du verkehrst, meinem Schirmherrn ja schon begegnet, ohne es zu wissen.«
Ich dachte an die vielen hundert Adligen und Höflinge, die ich im vergangenen Monat flüchtig kennengelernt hatte. Nicht einmal an ihre Gesichter konnte ich mich richtig erinnern. Das Feuer in mir breitete sich aus und erfüllte meine ganze Brust.
»Aber genug davon«, sagte Denna mit einer ungeduldigen Handbewegung. Sie schob die Harfe weg und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen ins Gras. »Du spannst mich auf die Folter. Hat dir das Lied gefallen?«
Ich blickte auf meine Hände und zupfte an dem Kranz herum, den ich geflochten hatte. Glatt und kühl lag das Gras zwischen meinen Fingern. Ich wusste nicht mehr, wie ich die Enden zu einem Ring hatte verbinden wollen.
»Ich weiß, dass es noch unfertige Stellen hat«, hörte ich Denna sagen. Ihre Stimme klang vor Aufregung ein wenig schrill. »Ich muss den Namen einbauen, von dem du gesprochen hast, wenn du sicher bist, dass er stimmt. Der Anfang muss noch besser fließen und der siebte Vers holpert noch ziemlich, ich weiß. Die Schilderung der Kämpfe und der Beziehung zu Lyra sollte ich noch ausbauen und das Ende straffen. Aber was meinst du insgesamt?«
Mit diesen Verbesserungen würde es ein wunderbares Lied werden, so gut wie die Lieder meiner Eltern. Aber das machte es nur noch schlimmer.
Meine Hände zitterten und ich staunte, wie schwierig es war, dieses Zittern zu unterdrücken. Ich hob den Kopf und sah Denna an. Ihre freudige Erregung schwand, als sie mein Gesicht sah.
»Du musst noch mehr ersetzen als nur den Namen.« Ich versuchte ganz ruhig zu klingen. »Lanre war kein Held.«
Denna sah mich sonderbar an, als sei sie unsicher, ob ich etwa scherzte. »Was?«
»Du hast die Geschichte auf den Kopf gestellt«, sagte ich. »Lanre war ein Ungeheuer, ein Verräter. Du musst sie umschreiben.«
Denna warf den Kopf in den Nacken und lachte. Als ich nicht mitlachte, sah sie mich mit schräg gelegtem Kopf verwirrt an. »Meinst du das im Ernst?«
|696| Ich nickte.
Ihr Gesicht erstarrte. Sie kniff die Augen zusammen, und ihr Mund wurde zu einem Strich. »Unmöglich.« Ihre Lippen arbeiteten stumm, dann schüttelte sie den Kopf. »Das geht nicht. Wenn Lanre nicht der Held ist, fällt die ganze Geschichte auseinander.«
»Es geht hier nicht um eine gute Geschichte, sondern um die Wahrheit«, erwiderte ich.
»Die Wahrheit?« Denna sah mich ungläubig an. »Das ist doch nur ein Märchen. Es hat weder die Orte noch die Menschen je gegeben. Genauso gut könntest du dich aufregen, wenn ich eine neue Strophe für
Tinker Tanner
geschrieben hätte.«
In meiner Kehle stiegen Worte auf, die so heiß brannten wie Feuer. Ich schluckte sie mühsam hinunter. »Manche Geschichten sind nur Märchen«, sagte ich, »aber nicht diese. Es ist nicht deine Schuld. Du konntest unmöglich wissen …«
»Vielen Dank auch«, fiel sie mir schneidend ins Wort. »Ich bin ja so froh, dass es nicht meine Schuld ist.«
»Also gut«, sagte ich scharf, »es
ist
deine Schuld. Du hättest gründlicher nachforschen müssen.«
»Was weißt du denn schon, was ich getan habe?«,
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