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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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erwiderte sie heftig. »Du hast nicht die geringste Ahnung! Ich habe auf der ganzen Welt nach den Spuren der Geschichte gesucht!«
    Genau dasselbe hatte mein Vater getan. Er hatte ein Lied über Lanre schreiben wollen, aber seine Nachforschungen hatten ihn zu den Chandrian geführt. Jahrelang hatte er halb vergessenen Geschichten und Legenden nachgejagt. Er hatte in seinem Lied die Wahrheit über die Chandrian sagen wollen, und die Chandrian hatten, um das zu verhindern, meine Eltern und ihre ganze Schauspieltruppe umgebracht.
    Ich blickte in das Gras und dachte an das Geheimnis, das ich schon so lange bewahrte. Wieder roch ich das Blut und die verbrannten Haare und sah das rostige Wagenrad, die blauen Flammen und die zerschundenen Körper meiner Eltern. Wie sollte ich von etwas so Furchtbarem sprechen? Wo anfangen? Ich spürte das Geheimnis groß und schwer wie einen Stein tief in meinem Inneren.
    »In der Fassung, die ich kenne«, sagte ich schließlich in Anspielung |697| auf das Geheimnis, »wurde Lanre zu einem Chandrian. Du musst aufpassen. Manche Geschichten sind gefährlich.«
    Denna starrte mich einen langen Augenblick an. »Einem Chandrian?«, wiederholte sie fassungslos. Dann lachte sie, doch es klang nicht herzlich wie sonst, sondern scharf und verächtlich. »Was für ein Kind bist du eigentlich?«
    Ich wusste genau, dass ich kindisch klang. Vor Verlegenheit lief ich rot an und brach am ganzen Körper in Schweiß aus. Doch als ich dann den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, war es, als hätte ich die Tür eines Ofens geöffnet. »Ich soll kindisch sein?«, fauchte ich. »Was weißt du denn, du dumme …« Ich konnte gerade noch das Wort
Hure
unterdrücken und biss mir dabei fast die Zunge ab.
    »Du hältst dich für so klug, ja?«, erwiderte Denna heftig. »Nur weil du auf der Universität warst, glaubst du, wir anderen seien …«
    »Reg dich nicht künstlich auf und hör mir zu!«, schrie ich. Die Worte strömten aus mir heraus wie geschmolzenes Eisen. »Du bist starrköpfig wie ein verwöhntes kleines Mädchen!«
    »Wie kannst du es wagen!« Denna zeigte mit dem Finger auf mich. »Sprich nicht mit mir, als wäre ich die Einfalt in Person. Ich weiß Dinge, die an deiner heißgeliebten Universität nicht unterrichtet werden! Geheimnisse! Ich bin nicht dumm!«
    »Dann benimm dich auch nicht so!« Ich schrie es so laut, dass mir die Kehle wehtat. »Sei wenigstens kurz still und hör mir zu! Ich will dir doch nur helfen!«
    Denna saß vollkommen reglos da, wie in eisiges Schweigen gehüllt. Ihre Augen blickten hart und ausdruckslos. »Ach so ist das«, sagte sie kalt. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, und ihre ruckartigen Bewegungen verrieten ihren Zorn. Sie öffnete die Zöpfe, strich die Haare glatt und flocht sie, ohne darauf zu achten, wieder zu Zöpfen. »Du regst dich auf, weil ich keine Hilfe von dir annehme. Du kannst nicht ertragen, dass du nicht alles für mich regeln und in Ordnung bringen kannst.«
    »Vielleicht sollte das wirklich jemand für dich tun«, gab ich zurück. »Bisher warst du nicht sonderlich erfolgreich.«
    Denna verharrte reglos. Ihre Augen sprühten Funken. »Wie kommst du darauf, dass du überhaupt etwas über mich weißt?«
    |698| »Ich weiß, dass du solche Angst davor hast, jemand könnte dir zu nahe kommen, dass du keine vier Nächte hintereinander im selben Bett schlafen kannst.« Ich bekam kaum noch mit, was ich da sagte. Die bösen Worte sprudelten aus mir heraus wie Blut aus einer Wunde. »Ich weiß, dass du in deinem Leben immer nur Brücken hinter dir abbrichst. Dass du deine Probleme löst, indem du vor ihnen …«
    »Wie kommst du darauf, dein Rat könnte mich überhaupt interessieren? Vor einem halben Jahr hast du noch mit einem Bein in der Gosse gestanden. Deine Haare waren ungekämmt und du hattest nur drei zerlumpte Hemden. Kein Adliger im Umkreis von hundert Meilen um Imre würde auf dich pissen, wenn du brennen würdest. Du musstest erst tausend Meilen weit reisen, um vielleicht einen Schirmherrn zu finden.«
    Mein Gesicht brannte vor Scham, als Denna von den drei Hemden sprach, und ich bekam den nächsten Wutanfall. »Du hast natürlich recht«, erwiderte ich beißend. »Du stehst hoch über mir. Dein Schirmherr würde bestimmt herzlich gern auf dich pissen …«
    »Jetzt kommen wir zum Kern der Sache«, sagte Denna und warf die Hände in die Luft. »Du magst meinen Schirmherrn nicht, weil du einen besseren für mich hast. Und mein Lied gefällt dir

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