Die Furcht des Weisen / Band 1
Nach der einen hatte die Tochter Kunden bedient, nach der anderen war sie selbst Kundin gewesen. Ich merkte mir den Vorfall zur künftigen Verwendung.
Über einer zweiten Flasche Wein las ich, dass die junge Netalia Lackless mit einer reisenden Schauspielertruppe durchgebrannt war. Ihre Eltern hatten sie natürlich enterbt und Meluan zur Alleinerbin |702| ihrer Ländereien gemacht. Das erklärte Meluans Hass auf die Ruh und machte mich doppelt froh, meine Abstammung hier in Severen verheimlicht zu haben.
Dass der Herzog von Cormisant in angeheitertem Zustand Tobsuchtsanfälle bekam und jeden verprügelte, der ihm nahe kam, darunter auch seine Frau, seinen Sohn und verschiedene Gäste, wurde gleich dreimal berichtet. Ein weiterer, kurzer Bericht enthielt einige Spekulationen darüber, dass der König und die Königin in ihrem privaten Garten fernab des königlichen Hofes ausgelassene Orgien feierten.
Sogar Bredon wurde einmal genannt. Er zelebrierte angeblich in einem abgeschiedenen Wald in der Nähe seines Anwesens im Norden heidnische Rituale. Die Rituale wurden allerdings so detailliert und fantasiereich geschildert, dass ich mich fragte, ob der Verfasser sie nicht aus einem alten aturischen Ritterroman abgeschrieben hatte.
Ich las bis in den Abend hinein und hatte den Stapel erst zur Hälfte bewältigt, als mir erneut der Wein ausging. Gerade wollte ich einen Laufburschen nach einer neuen Flasche losschicken, da spürte ich aus dem anderen Zimmer einen Luftzug, der ankündigte, dass Alveron meine Räume durch die Geheimtür betreten hatte.
Ich tat überrascht, als er in mein Zimmer kam. »Guten Abend, Euer Gnaden«, sagte ich und stand hastig auf.
»Bleib sitzen, wenn du willst«, erwiderte er kurz.
Ich blieb ehrerbietig stehen, denn ich wusste aus Erfahrung, dass man es mit der Höflichkeit in Gegenwart des Maer lieber etwas übertrieb. »Wie geht es mit Eurer Brautwerbung voran?«, fragte ich. Stapes versorgte mich diesbezüglich reichlich mit Informationen, und ich wusste, dass die Unternehmung kurz vor dem Abschluss stand.
»Wir haben uns heute offiziell verlobt«, sagte der Maer in Gedanken. »Die Urkunden sind unterschrieben, die Sache ist zu Ende gebracht.«
»Mit Verlaub, Euer Gnaden, Ihr wirkt nicht besonders froh.«
Der Maer lächelte verdrossen. »Du hast wahrscheinlich von den jüngsten Unruhen auf den Straßen gehört?«
|703| »Nur gerüchteweise, Euer Gnaden.«
Der Maer schnaubte. »Gerüchte, die ich eigentlich unterdrücken wollte. Banditen haben meine Steuerbeamten auf der Straße nach Norden überfallen.«
Das war ernst. »Steuerbeamten, Euer Gnaden?«, fragte ich und betonte die Mehrzahl. »Wie viel haben die Räuber erbeutet?«
Der Maer gab mir durch einen strengen Blick zu verstehen, dass mich das nichts anginge. »Genug, mehr als genug. Es ist bereits der vierte Überfall. Über die Hälfte meiner Steuern im Norden sind Banditen in die Hände gefallen.« Er sah mich ernst an. »Die Ländereien der Lackless liegen übrigens auch im Norden.«
»Ihr glaubt, die Lackless überfallen Eure Steuereintreiber?«
Er starrte mich entgeistert an. »Wie bitte? Aber nein, es sind Banditen aus dem Eld.«
Ich wurde vor Verlegenheit rot. »Habt Ihr Patrouillen ausgeschickt, Euer Gnaden?«
»Natürlich habe ich das«, antwortete er barsch. »Ein Dutzend. Sie haben nicht einmal ein Lagerfeuer gefunden.« Er machte eine Pause. »Ich vermute, dass ein Mitglied meiner Leibwache mit den Räubern gemeinsame Sache macht.«
»Bestimmt habt Ihr den Beamten Geleitschutz gegeben?«
»Zwei Mann jeweils. Weißt du überhaupt, was es kostet, ein Dutzend Wachen zu ersetzen? Rüstungen, Waffen und Pferde?« Er seufzte. »Dazu kommt noch, dass nur ein Teil der geraubten Steuern mir gehört. Der Rest gehört dem König.«
Ich nickte verständnisvoll. »Und der ist wahrscheinlich keineswegs erfreut.«
Alveron machte eine geringschätzige Handbewegung. »Roderich bekommt sein Geld trotzdem. Ich hafte ihm persönlich dafür. Ich muss meine Beamten also noch einmal ausschicken und den Anteil Seiner Majestät ein zweites Mal einsammeln.«
»Was der Bevölkerung sauer aufstoßen dürfte«, sagte ich.
»So ist es.« Der Maer ließ sich auf einen Sessel fallen und rieb sich müde das Gesicht. »Ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Was soll Meluan denken, wenn ich nicht einmal auf meinen Straßen für Ruhe und Ordnung sorgen kann?«
|704| Ich setzte mich ihm gegenüber. »Könnte nicht Dagon die Straßenräuber
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