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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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stark.« Dann die Linke. »Diese ist klug.«
    Das leuchtete mir ein. Aus demselben Grund griffen die meisten Lautenspieler die Töne mit der Linken und zupften mit der Rechten. Die Linke ist in der Regel flinker.
    Ich wiederholte Tempis Geste also mit den gespreizten Fingern der linken Hand. Tempi schüttelte den Kopf. »Das entspräche dem.« Er verzog einen Mundwinkel zu einem selbstgefälligen Grinsen.
    Die Grimasse wirkte auf seinem Gesicht so fehl am Platz, dass ich mich beherrschen musste, ihn nicht erstaunt anzustarren. Ich betrachtete seine Hand genauer und veränderte die Haltung meiner Finger ein wenig.
    Tempi nickte billigend. Sein Gesicht zeigte keine Regung, aber ich wusste jetzt, warum.
    Ich den folgenden Stunden lernte ich, dass die ademischen Gesten nicht einfach nur bestimmten Gesichtsausdrücken entsprachen. Man kann belustigt, glücklich, dankbar oder zufrieden lächeln. Man kann lächeln, weil man jemanden trösten will oder weil man zufrieden ist oder sich verliebt hat. Eine Grimasse oder ein Grinsen sehen ähnlich aus, bedeuten aber wieder etwas ganz anderes.
    Stellt euch vor, ihr wolltet jemandem das Lächeln beibringen und beschreiben, was die verschiedenen Lächeln bedeuten und wann genau |769| man sie im Gespräch einsetzt. Gehen zu lernen ist im Vergleich dazu einfach.
    Schlagartig wurde mir vieles klar. Natürlich sah Tempi mich beim Reden nicht an. Das Gesicht des Gesprächspartners war für das Gespräch uninteressant. Man hörte seiner Stimme zu und beobachtete seine Hände.
    Ich verbrachte also einige Stunden damit, die Grundlagen der ademischen Gestik zu lernen, ein atemberaubend schwieriges Unterfangen. Wörter sind vergleichsweise einfach. Auf einen Stein kann man zeigen, Laufen oder Springen kann man vorführen. Aber wer könnte Einverständnis pantomimisch darstellen? Oder Achtung? Ironie? Ich glaube, sogar mein Vater wäre daran gescheitert.
    Deshalb kam ich nur quälend langsam voran. Trotzdem war ich fasziniert. Ich schloss gewissermaßen Bekanntschaft mit einer anderen Art von Sprache.
    Die zudem eine Art Geheimnis war. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Geheimnisse gehabt.
    Ich brauchte drei Stunden für einige wenige Gesten. Zwar kam ich nur im Schneckentempo voran, aber als ich die Geste für »Untertreibung« gelernt hatte, erfüllte mich ein kaum zu beschreibender Stolz.
    Ich glaube, auch Tempi spürte ihn. »Gut«, sagte er und streckte die Finger flach aus, was offenbar Zustimmung bedeutete. Er rollte ein paar Mal mit den Schultern, stand auf und streckte sich. Dann blickte er zur Sonne auf, die durch die Äste über unseren Köpfen schien. »Jetzt essen?«
    »Bald.« Eine Frage beschäftigte mich noch. »Warum sich so viel Mühe machen, Tempi?«, fragte ich. »Ein Lächeln ist so leicht. Warum mit den Händen lächeln?«
    »Mit den Händen lächeln ist auch leicht. Und besser, weil …« Er machte eine Handbewegung ähnlich der, mit der er sich eben eingebildete Krümel vom Hemd gewischt hatte. Bedeutete sie nicht Abscheu, sondern
Ärger?
»Wie sagt man, wenn Menschen zusammenleben? Mit Ordnung und Straßen?« Er fuhr sich mit dem Daumen über das Schlüsselbein. Bedeutete diese Bewegung
Ungeduld?
»Wie sagt man für gutes Zusammenleben? Jeder nimmt auf den anderen Rücksicht?«
    |770| Ich lachte. »Zivilisation?«
    Er nickte und spreizte die Finger.
Belustigung.
»Ja. Mit den Händen sprechen ist Zivilisation.«
    »Aber Lächeln ist etwas Natürliches«, protestierte ich. »Alle Menschen lächeln.«
    »Natur ist nicht Zivilisation«, erwiderte Tempi. »Fleisch kochen ist Zivilisation. Gestank abwaschen ist Zivilisation.«
    »Ihr lächelt bei euch in Ademre also ausschließlich mit den Händen?« Ich hätte meine Verwirrung gern mit einer entsprechenden Handbewegung ausgedrückt.
    »Nein. Lächeln mit Gesicht ist gut für Familie und Freunde.«
    »Warum nur dort?«
    Tempi fuhr sich wieder mit dem Daumen über das Schlüsselbein. »Wenn man das macht …« Er drückte die Handfläche an die Wange und blies Luft hinein. Es klang, als lasse er einen lauten Furz. »Das ist natürlich, aber man macht es nicht vor anderen. Es ist unhöflich. Aber in der Familie …« Er zuckte mit den Schultern.
Belustigung.
»… gute Manieren nicht so wichtig.«
    »Und wie haltet ihr es mit dem Lachen?«, fragte ich. »Ich habe dich lachen sehen.« Ich lachte, damit er wusste, wovon ich redete.
    Er zuckte mit den Schultern. »Lachen ist …«
    Ich wartete einen Moment, aber er

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