Die Furcht des Weisen / Band 1
ließ den Blick durch das kleine Zimmer schweifen, mit seinen Dachschrägen und dem schmalen Bett. Zu meinem Erstaunen wurde mir bewusst, dass ich jetzt nirgends auf der Welt lieber gewesen wäre als hier. Ich fühlte mich fast wie zu Hause.
Euch mag das nicht ungewöhnlich erscheinen, ich aber fand es sehr seltsam. Während ich bei den Edema Ruh aufwuchs, war mein Zuhause nie ein bestimmter Ort gewesen. Mein Zuhause war eine Wagenkolonne und bestimmte Lieder am Lagerfeuer. Als meine Truppe ermordet wurde, verlor ich mehr als meine Eltern und Kindheitsfreunde. Es war, als wäre meine ganze Welt bis auf die Grundfesten niedergebrannt.
Nach fast einem Jahr an der Universität bekam ich nun allmählich |98| das Gefühl, dorthin zu gehören. Es war ein sonderbares Gefühl, diese Zuneigung zu einem bestimmten Ort. In mancher Hinsicht war es tröstlich, doch der Edema Ruh in mir blieb rastlos und sträubte sich gegen den Gedanken, irgendwo Wurzeln zu schlagen.
Und als ich einschlief, fragte ich mich, was mein Vater wohl von mir denken würde.
|99| Kapitel 7
Zulassungsprüfungen
A m nächsten Morgen klatschte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und stapfte nach unten. Der Schankraum des ANKER’S füllte sich gerade mit Leuten, die ein frühes Mittagessen zu sich nehmen wollten, und einige besonders verzweifelte Studenten fingen hier auch schon so früh zu trinken an.
Benommen von zu wenig Schlaf ließ ich mich an meinem üblichen Ecktisch nieder und begann mir wegen des bevorstehenden Prüfungsgesprächs den Kopf zu zerbrechen.
Kilvin und Elxa Dal bereiteten mir keine Sorgen. Für deren Fragen war ich gewappnet. Gleiches galt größtenteils auch für Arwyl. Die übrigen Meister aber waren mir in unterschiedlichem Maße ein Rätsel.
Jeder Meister stellte jedes Trimester im Lesesaal der Bibliothek eine Reihe von Büchern auf ein besonderes Bord. Darunter waren grundlegende Werke für die E’lir und weiterführende Lektüren für die Re’lar und El’the. Diese Bücher zeigten an, welches Wissen die Meister für besonders wertvoll erachteten. Das waren die Bücher, die ein cleverer Student vor der Zulassungsprüfung durchackerte.
Ich jedoch konnte nicht wie jedermann sonst einfach so in den Lesesaal spazieren. Seit über zehn Jahren war ich der erste Student, der in der Bibliothek Hausverbot erhalten hatte, und jeder wusste davon. Der Lesesaal war der einzige hell erleuchtete Raum im ganzen Gebäude, und während der Zulassungsprüfungen hielten sich dort rund um die Uhr Studenten auf und lasen.
Ich war daher gezwungen, Exemplare der empfohlenen Werke im Magazin der Bibliothek aufzustöbern. Es ist wirklich erstaunlich, |100| wie viele unterschiedliche Ausgaben ein und desselben Buches es geben kann. Wenn ich Glück hatte, entsprach der Band, den ich fand, genau dem, den der jeweilige Meister im Lesesaal ausgestellt hatte. Häufiger jedoch waren die Ausgaben, die ich fand, entweder veraltet, zensiert oder miserabel übersetzt.
In den vergangenen Nächten hatte ich so viel gelesen, wie ich nur konnte, aber es kostete wertvolle Zeit, die richtigen Bücher aufzutreiben, und daher war ich immer noch jämmerlich schlecht vorbereitet.
In derlei sorgenvolle Gedanken war ich versunken, als ich Anker sagen hörte: »Kvothe sitzt übrigens gleich da drüben.«
Ich hob den Blick und sah eine Frau am Tresen sitzen. Sie war nicht wie eine Studentin gekleidet, sondern trug ein kunstvoll geschneidertes, burgunderrotes Kleid mit langem Rock und schmaler Taille und dazu passende burgunderrote Handschuhe, die ihr bis zu den Ellenbogen reichten. Sie stieg mit bedächtigen Bewegungen von ihrem Hocker und kam an meinen Tisch. Ihr blondes Haar war kunstvoll in Locken gelegt und ihre Lippen tiefrot geschminkt. Unwillkürlich fragte ich mich, was sie an einem Ort wie dem ANKER’S verloren hatte.
»Bist du derjenige, der diesem Flegel Ambrose Jakis einen Arm gebrochen hat?«, fragte sie. Sie sprach Aturisch, mit einem kräftigen und melodischen modeganischen Akzent. Das erschwerte zwar ein klein wenig die Verständigung, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich es nicht attraktiv fand. So ein modeganischer Akzent trieft geradezu vor Sinnlichkeit.
»Ja, der bin ich«, sagte ich. »Es war zwar nicht direkt Absicht, aber ich habe es getan.«
»Dann muss ich dich unbedingt zu einem Gläschen einladen«, sagte sie im Tonfall einer Frau, die generell bekommt, was sie will.
Ich lächelte ihr zu und wäre gern schon
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