Die Furcht des Weisen / Band 1
aufhörte. Dann hörte ich, wie das Fenster geöffnet wurde.
»Kvothe?«, fragte Auri leise.
Ich biss die Zähne zusammen, um mein Schluchzen zu unterdrücken, und lag so reglos da, wie ich nur konnte, in der Hoffnung, dass sie annahm, ich schliefe, und wieder verschwand.
»Kvothe?«, sagte sie noch einmal. »Ich hab dir –« Sie verstummte, und nach kurzem Schweigen sagte sie: »Oh.«
Ich hörte ein leises Geräusch hinter mir. Der Mondschein warf ihren schmalen Schatten auf die Wand, während sie durchs Fenster stieg. Ich spürte, wie sich das Bett bewegte, als sie sich darauf niederließ.
Eine kleine, kühle Hand strich mir über die Wange.
»Ist ja gut«, sagte sie leise. »Komm her.«
Ich hielt die Tränen nicht mehr zurück, und sie nahm meinen |117| Kopf auf den Schoß. Sie murmelte, strich mir das Haar aus der Stirn und kühlte mit ihren Händen mein heißes Gesicht.
»Ich weiß«, sagte sie mit trauriger Stimme. »Manchmal ist es schlimm, nicht wahr?«
Sie streichelte mir das Haar, und da weinte ich nur noch heftiger. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich jemand das letzte Mal liebevoll berührt hatte.
»Ich weiß«, sagte sie. »Du hast einen Stein im Herzen, und an manchen Tagen ist er so schwer, dass man es kaum ertragen kann. Aber deshalb musst du nicht alleine sein. Du hättest zu mir kommen sollen. Ich verstehe das.«
Mein ganzer Körper krampfte sich zusammen, und mit einem Mal hatte ich wieder diesen Pflaumengeschmack im Mund. »Sie fehlt mir«, sagte ich, bevor mir klar wurde, dass ich überhaupt etwas sagte. Dann biss ich die Zähne zusammen, bevor ich noch etwas sagen konnte. Ich schüttelte heftig den Kopf, wie ein Pferd, das sich gegen seine Zügel sträubt.
»Du kannst es ruhig sagen«, sagte Auri ganz sanft.
Ich schüttelte erneut den Kopf, schmeckte wieder Pflaumenaroma, und mit einem Mal strömten die Worte nur so aus mir heraus. »Sie hat gesagt, ich habe schon gesungen, bevor ich sprechen konnte. Sie hat gesagt, als ich noch ein Säugling war, hat sie mir immer etwas vorgesummt, wenn sie mich auf dem Arm hielt. Kein richtiges Lied, nur eine absteigende Terz. Einfach nur, um mich zu beruhigen. Und dann, eines Tages, ging sie mit mir im Lager umher, und da hörte sie, wie ich es wiederholte. Zwei Oktaven höher. Eine kleine, piepsende Terz. Sie hat gesagt, das war mein erstes Lied. Wir haben es einander immer wieder vorgesungen. Jahrelang.« Ich bekam kein weiteres Wort mehr heraus und biss die Zähne zusammen.
»Du kannst es ruhig sagen«, sagte Auri sanft.
»Ich werde sie nie wiedersehen«, presste ich hervor. Und dann brach ich richtig in Tränen aus.
»Ist ja gut«, sagte Auri leise. »Ich bin ja da. Du bist in Sicherheit.«
|118| Kapitel 8
Fragen
D ie nächsten Tage waren weder angenehm noch produktiv.
Felas Prüfungstermin lag ganz am Ende der Spanne, und daher bemühte ich mich, die zusätzliche Zeit zu nutzen. Ich versuchte, im Handwerkszentrum etwas Akkordarbeit zu leisten, kehrte aber bald schon auf mein Zimmer zurück, nachdem ich beim Gravieren eines Werkstücks plötzlich in Tränen ausgebrochen war. Es gelang mir einfach nicht, mich auf das nötige Alar zu besinnen, und ich wollte unbedingt vermeiden, dass jemand den Eindruck bekam, ich hätte unter dem Stress der Zulassungsprüfungen einen Zusammenbruch erlitten.
Als ich später an diesem Abend durch den Felsgang ins Bibliotheksmagazin kriechen wollte, hatte ich mit einem Mal wieder den Pflaumengeschmack im Mund, und eine blinde Furcht vor diesem dunklen, engen Raum überwältigte mich. Zum Glück war ich erst einige wenige Meter weit vorgedrungen, aber dennoch handelte ich mir beim panischen Zurückkriechen aus dem Gang fast eine Gehirnerschütterung ein und schürfte mir die Handflächen auf.
Und so stellte ich mich also die nächsten beiden Tage krank und blieb auf meinem Zimmer. Ich spielte Laute, schlief unruhig und hegte finstere Gedanken zum Thema Ambrose.
Anker machte gerade sauber, als ich die Treppe herunterkam. »Geht’s dir besser?«, fragte er.
»Ein bisschen«, sagte ich. Am vergangenen Tag hatte ich nur noch |119| zwei Pflaumengeschmackrückfälle gehabt, und beide waren schnell vorübergegangen. Hinzu kam, dass ich die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Es schien, als hätte ich das Schlimmste überstanden.
»Hast du Hunger?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab heute meine Zulassungsprüfung.«
Anker runzelte die Stirn. »Dann solltest du aber etwas essen. Wenigstens einen
Weitere Kostenlose Bücher