Die Furcht des Weisen / Band 1
Hund wünschen, dort eingesperrt zu sein.«
Er wandte sich wieder um und ging weiter. Als ich ihm nicht folgte, blieb er wieder stehen.
»Das reicht mir nicht«, sagte ich. »Ihr müsst es mir versprechen.«
»Ich schwöre es bei der Milch meiner Mutter«, sagte Elodin. »Ich schwöre es bei meinem Namen und meiner Macht. Ich schwöre es bei dem ewig wandernden Mond.«
Da setzten wir unseren Weg fort.
»Sie braucht wärmere Kleider«, sagte ich. »Und Strümpfe und Schuhe. Und eine Decke. Und das alles muss neu sein, nicht aus zweiter Hand. Auri zieht nichts an, was schon jemand getragen hat. Das habe ich schon probiert.«
»Von mir würde sie das nicht annehmen«, sagte Elodin. »Ich habe schon Dinge für sie hinterlegt. Sie hat sie nicht angerührt.« Er sah mich an. »Wenn ich dir die Sachen gebe, gibst du sie an sie weiter?«
Ich nickte. »Sie braucht übrigens auch zwanzig Talente, einen großen Rubin und einen neuen Satz Gravierwerkzeuge.«
Elodin kicherte. »Braucht sie auch neue Lautensaiten?«
Ich nickte. »Und zwar gleich einen doppelten Satz, wenn’s geht.«
»Wieso Auri?«, fragte Elodin.
»Weil sie sonst niemanden hat«, sagte ich. »Und weil auch ich sonst niemanden habe. Wenn wir nicht aufeinander aufpassen, wer dann?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich meinte: Wieso hast du diesen Namen für sie ausgesucht?«
»Ach so«, sagte ich verlegen. »Weil sie immer so heiter und munter ist, obwohl sie eigentlich gar keinen Grund dazu hat. Auri bedeutet ›sonnig‹.«
»In welcher Sprache?«
Ich zögerte. »Siaru, glaube ich.«
Elodin schüttelte den Kopf. »Auf Siaru heißt sonnig ›
leviriet ‹
.«
|163| Ich überlegte, wo ich das Wort herhatte. War ich in einem Buch in der Uni-Bibliothek darauf gestoßen?
Doch bevor es mir wieder einfiel, wechselte Elodin das Thema. »Ich werde übrigens ein Seminar geben«, sagte er ganz beiläufig, »für Studenten, die sich für Namenskunde interessieren.« Er sah mich von der Seite an. »Und mir scheint, das wäre für dich nicht nur reine Zeitverschwendung.«
»Klingt interessant«, sagte ich vorsichtig.
Er nickte. »Du solltest zur Vorbereitung Teccams
Prinzipien
studieren. Es ist kein dickes Buch, aber sehr gehaltvoll.«
»Wenn Ihr mir ein Exemplar leihen könntet, würde ich nichts lieber tun als das«, sagte ich. »Sonst muss es halt erst mal ohne gehen.«
Er sah mich verständnislos an.
»Ich habe Hausverbot in der Bibliothek«, sagte ich.
»Immer noch?«, fragte Elodin verblüfft.
»Ja, immer noch.«
Er wirkte empört. »Seit wann denn schon? Seit einem halben Jahr?«
»In drei Tagen ist es ein Dreivierteljahr«, sagte ich. »Und Meister Lorren hat sehr deutlich erklärt, dass er mich nicht so schnell wieder hereinlassen wird.«
»Das«, sagte Elodin in einem Beschützerton, der ganz ungewohnt klang, »ist doch vollkommener Schwachsinn. Du bist doch jetzt mein Re’lar.«
Er wechselte abrupt die Richtung und schritt über einen Dachabschnitt, den ich normalerweise mied, da er mit Tonziegeln gedeckt war. Von dort sprangen wir in eine Gasse hinab, überquerten das Dach eines Wirtshauses und gelangten schließlich auf ein anderes, steinernes Dach.
Schließlich kamen wir an ein großes Fenster, aus dem warmer Kerzenschein drang. Elodin pochte so energisch an die Scheibe, als wäre es eine Tür. Als ich mich umblickte, wurde mir klar, dass wir uns auf dem Meistergebäude befanden.
Ich sah die große, schmale Gestalt Meister Lorrens den Kerzenschein verdecken. Er legte den Riegel um und öffnete den Fensterflügel.
|164| »Elodin, was kann ich für dich tun?«, fragte Lorren. Falls er die ganze Situation irgendwie seltsam fand, merkte ich es ihm jedenfalls nicht an.
Elodin wies mit dem Daumen auf mich. »Der Junge hier behauptet, er hätte in der Bibliothek immer noch Hausverbot. Stimmt das?«
Lorrens ungerührter Blick huschte zu mir hinüber, dann wieder zu Elodin zurück. »Ja, das stimmt.«
»Lass ihn wieder rein«, sagte Elodin. »Er muss lesen. Du hast ihn genug bestraft.«
»Er ist leichtsinnig«, sagte Lorren. »Ich hatte vor, ihn ein Jahr und einen Tag lang auszusperren.«
Elodin seufzte. »Ja, ja, sehr traditionell gedacht. Wieso gibst du ihm nicht eine zweite Chance? Ich bürge auch für ihn.«
Lorren sah mich eine ganze Weile prüfend an. Ich versuchte, so verantwortungsbewusst wie nur möglich zu wirken, was nicht ganz einfach war, mitten in der Nacht auf einem Dach.
»Also gut«, sagte Lorren. »Aber er darf
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