Die Furcht des Weisen / Band 1
einem Stuhl übertreibt und nach hinten umzukippen beginnt? So ähnlich fühlte ich mich in diesem Moment, und dazu kamen noch Selbstvorwürfe und Todesangst. Ich ruderte mit den Armen, obschon mir klar war, dass das nichts half, und mein Gehirn war vor Panik wie gelähmt.
Dann rettete mich der Wind. Eine kräftige Bö erwischte mich von hinten und gab mir gerade genug Schwung, dass ich das Gleichgewicht wiederfinden konnte. Mit einer Hand gelang es mir, das nun offenstehende Fenster zu ergreifen, und ich kletterte schnell hinein, ohne mich darum zu kümmern, ob ich dabei Lärm machte oder nicht.
Drinnen im Zimmer hockte ich mich erst mal schwer atmend auf den Boden. Mein Herzschlag begann sich gerade wieder ein wenig zu beruhigen, als der Wind das Fenster über mir erfasste, es zuknallte und mich damit aufs Neue erschreckte.
Ich holte meine kleine Sympathielampe hervor, stellte sie auf die geringste Leuchtstärke und schwenkte mit dem schmalen Lichtbogen |234| das Zimmer ab. Kilvin hatte recht gehabt, als er sie als »Diebeslampe« bezeichnete. Sie eignete sich perfekt für so etwas.
Es waren etliche Meilen nach Imre und wieder zurück, und ich baute darauf, dass Ambrose so neugierig war, mindestens eine halbe Stunde lang auf seine geheimnisvolle Verehrerin zu warten. Normalerweise hätte es einen ganzen Tag lang dauern können, nach etwas so Kleinem wie einem Ring zu suchen. Doch ich nahm an, dass Ambrose gar nicht auf die Idee gekommen war, ihn zu verstecken. Seiner Auffassung nach hatte er diesen Ring ja gar nicht gestohlen. Er sah darin entweder ein wertloses Schmuckstück oder eine Trophäe.
Also begann ich mit der systematischen Durchsuchung. Der Ring lag weder auf der Schlafzimmerkommode noch auf dem Nachttisch. Er befand sich in keiner Schublade seines Schreibtischs und lag auch nicht in dem Schmuckkasten in seinem Ankleidezimmer. Ambrose hatte keine verschließbare Schmuckschatulle, nein, von wegen, nur eine Art Tablett, auf dem alle möglichen Anstecknadeln, Ringe und Ketten achtlos hingeworfen durcheinander lagen.
Ich ließ alles, wo es war, was aber nicht heißen soll, dass ich nicht mit dem Gedanken spielte, den Scheißkerl auszurauben. Nur ein paar seiner Schmuckstücke hätten ausgereicht, und ich hätte mir ein ganzes Jahr lang keine Sorgen mehr um meine Studiengebühren machen müssen. Das aber hätte gegen meinen Plan verstoßen: Rein, Ring finden, raus. Solange ich keine Spuren meines Besuchs hinterließ, würde Ambrose, so nahm ich an, davon ausgehen, dass er den Ring irgendwo verloren hatte – falls er sein Fehlen überhaupt bemerkte. Es war das vollkommene Verbrechen: kein Verdacht, keine Verfolgung, keine Konsequenzen.
Außerdem ist es in einer so kleinen Stadt wie Imre natürlich ausgesprochen schwierig, gestohlenen Schmuck zu verkaufen. Die Diebesbeute hätte leicht zu mir zurückverfolgt werden können.
Ich habe aber auch nie behauptet, ein Priester zu sein, und in Ambroses Gemächern gab es Möglichkeiten genug, allerhand Schabernack zu treiben, und ich gönnte mir diesen Spaß. Während ich seine Hosentaschen absuchte, löste ich einige Nähte, so dass er sich wahrscheinlich den Hosenboden aufreißen würde, wenn er sich das nächste Mal darin setzte oder ein Pferd bestieg. Ich lockerte |235| auch den Griff des Rauchabzugs an seinem Kamin, so dass er bei nächster Gelegenheit abfallen und der Raum sich daraufhin mit Rauch füllen würde, während er noch hektisch versuchte, ihn wieder anzubringen.
Ich überlegte gerade krampfhaft, was ich mit dem verdammten Hut mit der großen Feder anstellen könnte, als das Eichenstück in meiner Hosentasche hektisch zuckte, so dass ich zusammenfuhr. Es zuckte noch einmal und brach dabei entzwei. Ich fluchte leise vor mich hin. Ambrose war doch seit höchstens zwanzig Minuten fort. Warum kam er schon wieder zurück?
Ich knipste meine Lampe aus und steckte sie wieder ein. Dann huschte ich ins Nebenzimmer, um dort aus dem Fenster zu steigen. Es war ärgerlich, dass ich solche Mühen auf mich genommen hatte, um hier hereinzukommen, nur um so bald und unverrichteter Dinge wieder verschwinden zu müssen, doch solange Ambrose nicht wusste, dass jemand bei ihm eingestiegen war, konnte ich auch einfach ein andermal wiederkommen.
Das Fenster ließ sich nicht mehr öffnen. Ich drückte fester, da ich annahm, dass es sich, als der Wind es zuschlug, irgendwie verkantet hatte.
Dann entdeckte ich einen schmalen Messingstreifen, der innen am Fensterbrett
Weitere Kostenlose Bücher