Die Furcht des Weisen / Band 1
ins Werk zu setzen.
Ich schlich die Dachschräge entlang und bewegte mich dabei vorsichtig über die schweren Tonziegel. Aus meiner Zeit in Tarbean wusste ich, dass sie leicht brachen und man dann plötzlich den Halt verlor.
Ohne Zwischenfälle schaffte ich es bis an die Dachkante, die sich in fünf Meter Höhe über dem Erdboden befand. Das war keine Höhe, bei der mich der Schwindel gepackt hätte, aber durchaus genug, dass ich mir bei einem Sturz ein Bein oder auch das Genick gebrochen hätte. Ein schmaler Dachsaum verlief unterhalb der langen Reihe der Fenster des ersten Obergeschosses. Es waren insgesamt zehn, und die mittleren vier gehörten zu Ambroses Gemächern.
Ich spannte die Finger ein paarmal an, um sie zu lockern, und schlich dann seitwärts auf diesem schmalen Saum.
Das Geheimnis bei so etwas besteht darin, sich nur auf das zu konzentrieren, was man macht. Man darf nicht zu Boden schauen und sich nicht umsehen. Man darf bei so etwas die restliche Welt gar nicht beachten und sollte darauf vertrauen, dass sie es umgekehrt ebenso hält. Deshalb trug ich an diesem Abend meinen Umhang. Wenn mich jemand sah, war ich weiter nichts als eine dunkle Gestalt |232| in der Finsternis, unmöglich zu identifizieren. Das hoffte ich zumindest.
Das erste Fenster war dunkel, und beim zweiten waren die Vorhänge zugezogen. Aus dem dritten aber drang schummriges Licht. Ich zögerte. Wenn man so hellhäutig ist wie ich, sollte man nachts lieber nicht in irgendwelche Fenster spähen – es sei denn, man will, dass das eigene Gesicht darin aufscheint wie der Vollmond. Statt dieses Risiko einzugehen, suchte ich in meinen Umhangtaschen, bis ich ein Stück Zinnblech aus dem Handwerkszentrum fand, das ich so lange poliert hatte, bis es als provisorischer Spiegel dienen konnte. Damit linste ich vorsichtig um die Ecke, in das Zimmer hinein.
Dort sah ich ein Himmelbett, das so groß war wie meine ganze Kammer im ANKER’S. Das Bett war belegt. Und zwar im aktiven Sinne. Als ich näher hinsah, erblickte ich darin mehr nackte Gliedmaßen, als bei zwei Personen zu erwarten gewesen wären. Doch leider war mein Blechspiegel zu klein, um die Szene im ganzen Umfang zu überblicken, sonst hätte ich womöglich allerhand Interessantes gelernt.
Ich überlegte kurz, umzukehren und mich Ambroses Gemächern von der anderen Seite aus zu nähern, doch da frischte mit einem Mal der Wind auf, jagte Laub übers Kopfsteinpflaster und versuchte mich vom Dach zu wehen. Mit pochendem Herzen beschloss ich, es zu wagen. Ich wollte versuchen, an diesem Fenster vorbeizuschleichen. Die Leute in dem Zimmer, nahm ich an, hatten Besseres zu tun, als nach den Sternen zu gucken.
Ich zog mir die Kapuze tief ins Gesicht und hielt sie mit den Zähnen fest. Damit war mein Gesicht vermummt, und ich hatte die Hände frei. Derart blind, schob ich mich langsam an dem Fenster vorbei und spitzte die Ohren, ob sich irgendwie erkennen ließ, dass ich entdeckt worden war. Einige erstaunte Laute drangen zu mir, aber die hatten offenbar nichts mit mir zu tun.
Das erste von Ambroses Fenstern war aus kunstvoll bemaltem Buntglas. Sehr hübsch, aber nicht dazu gedacht, geöffnet zu werden. Das Nächste war genau richtig: ein breites Doppelfenster. Ich zog ein Stück Kupferdraht aus einer Umhangtasche und knackte damit die schlichte Verriegelung.
|233| Als sich das Fenster nicht öffnen ließ, wurde mir klar, dass Ambrose zusätzlich einen Fallriegel hatte anbringen lassen. Das erwies sich als kniffelig und kostete mich etliche Minuten, da ich einhändig und in fast völliger Dunkelheit vorgehen musste. Zum Glück hatte sich der Wind, zumindest vorübergehend, gelegt.
Nachdem ich auch den Fallriegel geknackt hatte, ließ sich das Fenster aber immer noch nicht bewegen. Ich fluchte auf Ambroses Verfolgungswahn und suchte fast zehn Minuten lang nach einem dritten Schließmechanismus, bis mir schließlich klar wurde, dass das Fenster einfach nur klemmte.
Ich zerrte noch ein paarmal dran, was längst nicht so einfach war, wie es jetzt vielleicht klingt. Es hatte außen schließlich keine Griffe. Dann übertrieb ich es und riss zu fest. Das Fenster sprang auf, und mein Körper wurde nach hinten gedrückt, über die Dachkante hinaus. Ich kämpfte gegen den Reflex an, einen Fuß rückwärts zu setzen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, da ich wusste, dass sich hinter mir nichts als ein fünf Meter tiefer Abgrund befand.
Kennt ihr das Gefühl, wenn man es beim Kippeln mit
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