Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
von Haert.
Wir gingen über eine Meile bis zu dem Ort, den ich ausgewählt hatte, einem Wäldchen, abgeschirmt durch einige große Felsblöcke, so dass kein Laut zu dem schlafenden Ort dringen würde. Der Mond schien schräg zwischen den Bäumen hindurch auf eine zwischen den Felsen versteckte kleine Lichtung, auf der zwei Holzbänke standen. Ich nahm Vashet behutsam am Arm, führte sie zu der einen Bank und bedeutete ihr, sich zu setzen.
Dann griff ich in den tiefen Schatten eines Baumes und holte meinen Schattenmantel hervor. Sorgfältig drapierte ich ihn über einen tiefhängenden Ast, bis er wie ein dunkler Vorhang zwischen uns hing.
Ich setzte mich auf die andere Bank und öffnete eine nach der anderen die Schnallen meines Lautenkastens. Die Laute summte jedes Mal in einer vertrauten Harmonie, als könne sie es nicht erwarten, endlich befreit zu werden.
Ich hob sie heraus und begann leise zu spielen.
In den Resonanzkörper der Laute hatte ich ein Tuch gesteckt, um den Schall zu dämpfen. Er sollte im Dorf nicht zu hören sein. Außerdem hatte ich einen roten Faden zwischen die Saiten geflochten, einerseits um sie zu dämpfen, aber auch in der verzweifelten Hoffnung, er könnte mir Glück bringen.
Ich begann mit
In der Dorfschmiede,
allerdings ohne den Text zu singen, aus Sorge, ich könnte Vashet kränken, wenn ich so weit ging. Doch das Lied klingt auch ohne Worte nach Kummer und Tränen. Die Musik spricht von leeren Zimmern, einem kalten Bett und einer verlorenen Liebe.
Ohne Pause spielte ich anschließend
Violet
und dann
Wehe, Wind, in Richtung Westen.
Dieses zweite Lied hatte meine Mutter besonders geliebt. Ich musste beim Spielen an sie denken, und mir kamen die Tränen.
Dann spielte ich das Lied, das in meinem tiefsten Inneren verborgen ist, jene wortlose Musik, die in den geheimsten Winkeln meines Herzens klingt. Ich spielte behutsam und leise, und ruhig klangen die Töne durch die stille Nacht. Wie gerne würde ich sagen, es sei ein glückliches, fröhliches Lied, aber das stimmt nicht.
Dann hörte ich auf. Meine Fingerspitzen brannten und taten weh. Ich hatte seit einem Monat nicht mehr richtig gespielt und keine Hornhaut mehr an den Fingern.
Ich blickte auf und sah, dass Vashet meinen Schattenmantel zur Seite geschoben hatte und mich betrachtete. Der Mond stand hinter ihr, und ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen.
»Deshalb habe ich nicht Messer an den Armen, sondern Hände, Vashet«, sagte ich leise. »Das bin ich.«
Kapitel 122
Die beste Entscheidung
A m folgenden Morgen wachte ich früh auf. Ich frühstückte schnell und war in mein Zimmer zurückgekehrt, bevor die anderen Schüler aufstanden.
Ich schulterte die Laute und den Reisesack, wickelte mich in meinen Schattenmantel und vergewisserte mich noch einmal, dass alles, was ich brauchte, ordnungsgemäß in den Taschen verstaut war: die rote Schnur, die Wachspuppe, der Eisenspan und das Fläschchen Wasser. Ich stülpte die Kapuze meines
shaed
über, verließ die Schule und machte mich auf den Weg zu Vashets Haus.
Vashet öffnete mir zwischen dem zweiten und dritten Klopfen. Sie trug kein Hemd und stand mit nackten Brüsten in der Tür. Ausgiebig musterte sie mich, meinen Mantel, meinen Reisesack und meine Laute.
»Heute ist offenbar ein Morgen der Besuche«, sagte sie. »Komm herein. In der Frühe ist der Wind kalt.«
Ich trat ein, übersah allerdings die Schwelle, stolperte und musste mich an Vashets Schulter abstützen, um nicht zu fallen. Dabei blieb ich mit der Hand ungeschickt in ihren Haaren hängen.
Kopfschüttelnd schloss Vashet die Tür hinter mir. Dass sie nackt war, schien sie nicht zu kümmern. Unbefangen hob sie die Hände hinter den Kopf und begann die eine Hälfte ihrer offen herunterhängenden Haare zu einem kurzen, festen Zopf zu flechten.
»Kurz nach Sonnenaufgang klopfte Penthe an meine Tür«, sagte sie im Plauderton. »Sie wusste, dass ich wütend auf dich war, und verteidigte dich, obwohl sie nicht wusste, was du getan hattest.«
Vashet hielt den Zopf mit einer Hand fest, griff nach einer rotenSchnur und band ihn fest. »Sie war gerade erst gegangen, da kam Carceret. Sie beglückwünschte mich dazu, dass ich dich endlich so behandelte, wie du es verdienst.«
Sie hob die Hände erneut, um die andere Hälfte ihrer Haare zu einem Zopf zu flechten. »Ich habe mich über beide geärgert. Es stand ihnen nicht zu, mit mir über meinen Schüler zu sprechen.«
Sie band den zweiten Zopf fest. »Ich habe dann
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