Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Barbar.«
Vashet schlug die Augen nieder und nickte. »Du hast es wahrscheinlich nicht mitbekommen, aber Penthe hat vorgestern mit Carceret über dich gestritten und ihr dabei ein blaues Auge verpasst. Auch Celean hat dich liebgewonnen und spricht mit den anderen Kindern über dich. Sie sehen dir aus den Bäumen beim Üben zu.« Sie schwieg einen Moment. »Und es gibt noch andere.«
Ich kannte Vashet inzwischen gut genug, um ihr kurzes Schweigen richtig zu deuten. Plötzlich verstand ich ihre gedämpfte Stimmung und ihre Wortkargheit viel besser.
»Shehyn muss im Interesse der Schule handeln«, fuhr Vashet fort. »Sie muss einerseits entscheiden, was in diesem Sinn richtig ist, und darf sich nicht dadurch beeinflussen lassen, dass einige wenige dich mögen. Wenn sie andererseits eine richtige Entscheidung trifft, aber viele von uns sie ablehnen, ist das auch nicht gut.« Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Deshalb.«
»Und bin ich bereit?«
Vashet schwieg lange. »Schwer zu sagen«, meinte sie schließlich. »Die Aufnahme in die Schule hängt nicht nur von bestimmten Fähigkeiten ab. Der Betreffende muss auch hineinpassen. Und wenn einervon uns durchfällt, kann er die Prüfung wiederholen. Tempi musste sie viermal machen, bis er sie bestand. Du dagegen bekommst nur eine Chance.« Sie blickte zu mir auf. »Und ob du nun bereit bist oder nicht, du musst sie jetzt machen.«
Kapitel 123
Das Kreiselnde Blatt
A m nächsten Morgen holte Vashet mich ab, als ich gerade erst mit dem Frühstück fertig war. »Komm«, sagte sie. »Carceret hat die ganze Nacht gebetet, dass es einen Sturm gibt, aber es weht nur ein kräftiger Wind.«
Ich verstand nicht, was sie damit meinte, aber mir war auch nicht nach Fragen zumute. Ich brachte meinen Holzteller weg. Als ich mich anschließend umdrehte, stand Penthe vor mir. An ihrem Kinn zog sich ein kleiner Bluterguss entlang, der bereits gelblich wurde.
Sie sagte nichts, sondern fasste mich nur an den Armen, um mir dadurch vor allen anderen ihren Beistand zu zeigen. Anschließend umarmte sie mich fest. Ihr Kopf reichte mir zu meiner Überraschung nur bis zur Brust. Ich hatte vergessen, wie klein sie war. Im Speisesaal war es noch ruhiger als sonst. Niemand starrte mich an, aber alle schienen mich zu beobachten.
Vashet ging mit mir in den kleinen Park, in dem wir uns kennengelernt hatten, und wir begannen mit unseren üblichen Lockerungsübungen. Ich beruhigte mich dabei ein wenig und meine Aufregung wich einem dumpfen inneren Grollen. Anschließend führte Vashet mich zum versteckten Tal des Schwertbaums hinab. Ich war nicht überrascht. Wo sonst hätte die Prüfung stattfinden sollen?
Ein Dutzend Menschen standen auf der Wiese um den Baum verstreut. Die meisten trugen das rote Söldnergewand, drei aber auch hellere Kleider. Sie waren vermutlich wichtige Mitglieder der Gemeinschaft oder vielleicht auch ehemalige Söldner, die immer noch mit der Schule zu tun hatten.
Vashet zeigte auf den Baum. Zuerst dachte ich, sie wollte mich auf seine Bewegung aufmerksam machen. Es war, wie sie gesagt hatte, ein sehr windiger Tag, und die Äste schwangen aufgeregt hin und her. Doch dann sah ich am Stamm etwas metallisch aufblitzen. Bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich als Schwert, das am Stamm festgebunden war.
Ich dachte an Celean, wie sie zwischen den scharfkantigen Blättern hindurchgetanzt war, um an den Stamm zu schlagen. Natürlich.
»Am Fuß des Baumes liegen verschiedene Gegenstände«, sagte Vashet. »Deine Prüfung besteht darin, zum Stamm zu laufen, einen Gegenstand auszuwählen und ihn uns zu bringen.«
»Das ist die Prüfung?«, fragte ich. Es klang ein wenig schärfer als beabsichtigt. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
»Warum hast du mich nicht gefragt?«, erwiderte Vashet trocken, dann legte sie mir beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Ich hätte es dir irgendwann gesagt. Aber wenn ich es dir zu früh gesagt hätte, hättest du auf eigene Faust versucht, bis zum Stamm zu kommen, und dich verletzt.«
»Gott sei Dank haben wir uns das für heute aufgespart.« Ich seufzte.
Egal, Entschuldigung.
»Was passiert, wenn ich da reinlaufe und völlig zerschnitten werde?«
»Schneiden tut man sich eigentlich immer«, sagte Vashet. Sie zog den Halsausschnitt ihres Hemds zur Seite, und ich sah auf ihrer Schulter zwei der vertrauten hellen, dünnen Narben. »Die Frage ist, wie oft und wo, und wie du mit der Herausforderung fertig wirst.« Sie rückte den
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