Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Ausschnitt wieder zurecht. »Die Blätter schneiden nicht tief, aber gib auf dein Gesicht und deinen Hals Acht und auf die Stellen, wo Adern und Sehnen direkt unter der Haut verlaufen. Ein Schnitt auf Brust oder Arm heilt schnell wieder, ein abgetrenntes Ohr nicht.«
Ich sah, wie eine Windbö sich im Baum fing und die Zweige heftig zu rudern begannen. »Was hindert mich daran, auf Händen und Knien zum Stamm zu kriechen?«
»Dein Stolz.« Vashet betrachtete mich forschend. »Willst du als der Prüfling in Erinnerung bleiben, der seine Prüfung kriechend absolviert hat?«
Ich nickte. Das konnte ich mir natürlich nicht leisten. Als Barbar musste ich mich doppelt bewähren.
Ich betrachtete wieder den Baum. Vom Ende der schwankenden Äste bis zum Stamm waren es zehn Schritte. Ich musste an die Narben auf Tempis Körper und in Carcerets Gesicht denken. »Das Ganze ist also eine Mutprobe«, sagte ich. »Und eine Prüfung des Stolzes.«
»Es wird vieles geprüft«, erwiderte Vashet. »Aus deinem Verhalten lässt sich eine Menge ablesen. Du könntest das Gesicht mit den Armen schützen und einfach drauflos rennen. Schließlich ist der gerade Weg der schnellste. Aber was sagt das über dich? Bist du ein Stier, der blindlings angreift? Ein plump drauflos rennendes Tier?« Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Von meinem Schüler erwarte ich mehr.«
Ich kniff die Augen zusammen, um zu sehen, was für Gegenstände am Fuß des Baumes lagen. »Die Frage, welchen Gegenstand ich wählen soll, ist wahrscheinlich nicht erlaubt.«
»Es gibt viele richtige Möglichkeiten und viele falsche. Das hängt auch vom jeweiligen Prüfling ab. Was jemand wählt, was er danach damit tut und wie er sich insgesamt verhält, ist sehr aufschlussreich.« Vashet zuckte mit den Schultern. »Shehyn wird das alles berücksichtigen und dann entscheiden, ob du in die Schule aufgenommen wirst.«
»Wenn sie die Entscheidung trifft, warum sind dann all die anderen da?«
Vashet lächelte gezwungen, und ich sah die Besorgnis, die in der Tiefe ihrer Augen lauerte. »Shehyn ist nicht die einzige Vertreterin der Schule.« Sie zeigte auf die anderen um den Schwertbaum stehenden Adem. »Und erst recht nicht die einzige Vertreterin des Latantha.«
Ich sah mich um und bemerkte, dass die wenigen nicht in Rot gekleideten Personen tatsächlich weiße Kleider trugen. Es handelte sich um die Leiter anderer Schulen, die gekommen waren, um mitzuerleben, wie sich der Barbar in der Prüfung schlug.
»Ist das üblich?«, fragte ich.
Vashet schüttelte den Kopf. »Ich könnte ja so tun, als wüsste ich von nichts, aber ich vermute, dass Carceret sie informiert hat.«
»Können sie Shehyns Entscheidung überstimmen?«, fragte ich.
Vashet schüttelte den Kopf. »Nein, an ihrer Schule trifft sie die Entscheidungen. Niemand würde ihr dieses Recht absprechen.« Sie machte eine einschränkende Handbewegung.
Jedoch.
»Verstehe«, sagte ich.
Vashet nahm mit beiden Händen meine Hand, drückte sie und ließ sie wieder los.
Ich ging zum Schwertbaum. Der Wind ließ einen Augenblick lang nach, und die dicht belaubten, herunterhängenden Äste erinnerten mich an meine Begegnung mit dem Cthaeh. Es war kein tröstlicher Gedanke.
Ich betrachtete die sich drehenden Blätter und verdrängte den Gedanken an ihre scharfen Ränder und daran, wie sie in mein Fleisch hineinschneiden würden, in die dünne Haut meiner Hände und durch die zarten Sehnen darunter.
Von den ersten Blättern bis zum Stamm waren es höchstens zehn Schritte. Das war einerseits überhaupt nicht weit …
Ich sah wieder Celean vor mir, wie sie sich zwischen den Blättern hindurchgeschlängelt und sich geduckt und die Äste zur Seite geschlagen hatte. Wenn sie das konnte, konnte ich es doch gewiss auch.
Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Celean hatte ihr ganzes Leben lang hier gespielt. Sie war so dünn wie ein Zweig, so schnell wie eine Grille und halb so groß wie ich. Verglichen mit ihr war ich ein schwerfälliger Bär.
Auf der anderen Seite des Baumes standen einige Adem-Söldner und zwei Gestalten in den noch furchteinflößenderen weißen Hemden. Ich spürte ihre Blicke auf mir und war darüber seltsam froh.
Wenn man allein ist, hat die Angst leichtes Spiel. Man stellt sich vor, was im Dunkeln am Fuß der Kellertreppe lauern könnte, die Gedanken drehen sich im Kreis, und man denkt nur noch daran, wie verrückt es ist, sich in einen Sturm kreiselnder Messer zu begeben. Wenn man allein ist,
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