Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
sie schließlich und machte eine Geste, die womöglich
Unruhe
bedeutete. »Über so etwas darf man nicht leichtfertig sprechen.«
Ich verzog keine Miene und zwang meine verbundene Hand zu sagen, es sei bei allem Respekt ein
tiefer Wunsch
. »Ich danke Euch, dass Ihr darüber nachdenken wollt, Shehyn. Was immer Ihr mir über die Rhinta sagen könnt, es wäre mir mehr wert als ein Barren Gold.«
Vashet bekundete durch eine Handbewegung
entschiedenes Unbehagen
und dann
höflicher Wunsch, Unterschied.
Zwei Spannen früher hätte ich sie noch nicht verstanden, aber jetzt begriff ich, dass ich das Gesprächsthema wechseln sollte.
Also hakte ich nicht weiter nach, sondern schwieg. Ich kannte die Adem inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich auf keinen Fall auf etwas beharren durfte, wenn ich mehr erfahren wollte. Im Commonwealth wäre das anders gewesen. Ich hätte einfach so lange auf die betreffende Person eingeredet, bis ich wusste, was ich wissen wollte. Hier funktionierte das nicht. Hier ging es nur durch Schweigen und Stille. Ich musste mich in Geduld üben und warten, bis Shehyn von sich aus auf das Thema zu sprechen kam.
»Wie gesagt«, fuhr Shehyn fort.
Widerwilliges Zugeständnis.
»Dein Ketan ist zwar schlecht, aber wenn du ihn ein Jahr lang angemessen üben würdest, wärst du Tempi ebenbürtig.«
»Ihr schmeichelt mir.«
»Nein, ich sage dir, wo du Schwächen hast. Du lernst schnell. Die Folge davon ist überstürztes Handeln, und das widerspricht dem Lethani. Vashet ist nicht die Einzige, der deine Art nicht ganz geheuer ist.«
Shehyn musterte mich lange. Über eine Minute lang sah sie mich unverwandt an. Dann hob sie vielsagend die Schultern, warf Vashet einen Blick zu und bedachte sie mit der Andeutung eines Lächelns. »Trotzdem.«
Seltsamer Gedanke.
»Wenn ich je einen Menschen kennengelernt habe, auf dessen Herz kein Schatten lag, war das gewiss einKind, das noch nicht sprechen konnte.« Sie stemmte sich aus ihrem Sessel und strich ihr Hemd mit beiden Händen glatt. »Komm, lass uns einen Namen für dich finden.«
Shehyn führte uns einen steilen, steinigen Hang hinauf.
Keiner von uns hatte ein Wort gesprochen, seit wir die Schule verlassen hatten. Ich wusste nicht, was gleich geschehen würde, aber es schien unpassend danach zu fragen. Es hätte respektlos geklungen, wie wenn ein Bräutigam mitten in der Hochzeit plötzlich laut fragte: »Was kommt als Nächstes?«
Wir gelangten zu einem grasbewachsenen Vorsprung, über den ein Baum hing, der sich mit seinen Wurzeln in die senkrechte Felswand krallte. Neben dem Baum sah ich die dicke Holztür eines versteckten Adem-Hauses.
Shehyn klopfte an, öffnete die Tür aber selbst. Drinnen sah es überhaupt nicht aus wie in einer Höhle. Die Steinwände waren glatt zugehauen, Dielen bedeckten den Boden. Die Wohnung war außerdem viel größer, als ich erwartet hatte. Sie hatte eine hohe Decke und sechs Türen führten tiefer in den Felsen hinein.
An einem niedrigen Tisch saß eine Frau, die gerade etwas von einem Buch in ein anderes übertrug. Ihre Haare waren weiß und ihr Gesicht verrunzelt wie ein alter Apfel. Mir fiel auf, dass sie die erste Person war, die ich in Haert lesen oder schreiben sah.
Die Alte nickte Shehyn grüßend zu, dann wandte sie sich an Vashet. An ihren Augenwinkeln erschienen kleine Fältchen.
Freude.
»Vashet«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass du zurückgekehrt bist.«
»Wir kommen wegen eines Namens, Magwyn«, sagte Shehyn.
Höfliche, förmliche Bitte.
»Eines Namens?«, fragte Magwyn verwirrt. Sie blickte von Shehyn zu Vashet und dann zu mir, der ich hinter den beiden stand. Ihr Blick verweilte auf meinem roten Haar und meiner verbundenen Hand. »Ah«, sagte sie in plötzlichem Ernst.
Sie klappte die Bücher zu und stand auf. Ihr Rücken war gebeugt und sie ging mit kleinen, schlurfenden Schritten. Sie winkte mich näher, ging langsam um mich herum und betrachtete mich ausgiebig von oben bis unten. Mein Gesicht mied sie, aber sie ergriff meinegesunde Hand, drehte sie um und betrachtete den Handteller und die Fingerspitzen.
»Ich möchte, dass du etwas sagst«, meinte sie schließlich, ohne den Blick von meiner Hand abzuwenden.
»Wie Ihr wollt, verehrte Namensschöpferin«, sagte ich.
Magwyn sah Shehyn an. »Macht er sich über mich lustig?«
»Ich glaube nicht.«
Magwyn ging noch einmal um mich herum und strich mir mit den Händen über Schultern, Arme und Nacken. Dann fuhr sie mir mit den Fingern durch
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