Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
dritten Wand. Sie wurde immer langsamer, nahm fast jedes Schwert in die Hand und prüfte es eingehend, bevor sie es an seinen Platz zurückhängte.
Dann kam sie wieder zu einem Schwert mit einer grau schimmernden Klinge. Langsam nahm sie es in die Hand, hob es von der Wand und hielt es vor sich hin. Sie wirkte auf einmal zehn Jahre älter.
Ohne Shehyn anzusehen reichte sie es mir. Die Parierstange stand an beiden Enden deutlich über und war gekrümmt, so dass sie immerhin einen kleinen Schutz für die Hand bildete. Sie war nicht mit einem richtigen Handschutz vergleichbar, aber ein sperriger Handschutz hätte die Hälfte der Übungen des Ketan unmöglich gemacht. Wenigstens schien sie den Fingern einen gewissen Schutz zu geben, und das zog mich an.
Der warme Griff schmiegte sich in meine Hand wie der Hals meiner Laute.
Noch ehe Vashet mich dazu auffordern konnte, führte ich die Sich Kämmende Jungfrau aus. Sie fühlte sich an, als streckte ich nach langem Schlaf die steifen Glieder. Ich ging zu den Zwölf Steinen überund kam mir einen Augenblick lang so anmutig vor wie Penthe, wenn sie kämpfte. Dann machte ich den Fallenden Reiher, und er ging mir so angenehm und leicht von der Hand wie ein Kuss.
Vashet hob die Hand, um mir das Schwert abzunehmen. Ich wollte es ihr eigentlich gar nicht geben, tat es aber doch. Für eine Szene waren Ort und Zeit denkbar ungeeignet.
Mit dem Schwert in der Hand wandte Vashet sich an Shehyn. »Das ist das richtige Schwert für ihn«, sagte sie. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, war von ihrer forschen, unbekümmerten Art nichts mehr zu spüren. Ihre Stimme klang dünn und brüchig.
Shehyn nickte. »Ich stimme zu. Du hast das Richtige gefunden.«
Ich konnte Vashets Erleichterung förmlich spüren, obwohl sie immer noch nicht glücklich aussah. »Es kann vielleicht seinen Namen ausgleichen«, sagte sie. Sie hielt das Schwert Shehyn hin.
Shehyn machte eine Handbewegung.
Ablehnung.
»Nein. Er ist dein Schüler. Deine Wahl, deine Verantwortung.«
Vashet nahm die Scheide von der Wand und steckte das Schwert hinein. Dann hielt sie es mir hin. »Es heißt Saicere.«
»Caesura?«, fragte ich ein wenig verwirrt. Hatte nicht Sim die Pause in den Versen altvintischer Gedichte so ähnlich genannt? Zäsur? Bekam ich das Schwert eines Dichters?
»Saicere«, sagte Vashet leise, als handelte es sich um den Namen eines Gottes. Sie trat zurück, und ich spürte das Gewicht des Schwertes wieder in meinen Händen.
Da ich das Gefühl hatte, dass von mir etwas erwartet wurde, zog ich es aus der Scheide. Das leise Geräusch des Leders und Metalls hörte sich an wie ein Flüstern des Namens:
Saicere.
Leicht lag es mir in der Hand. Die Klinge war ohne die kleinste Schramme. Ich steckte es wieder ein. Diesmal war das Geräusch anders. Es klang wie die Pause in der Mitte eines Verses, wie
Zäsur.
Shehyn öffnete die innere Tür und wir gingen, wie wir gekommen waren, stumm und voller Respekt.
Der restliche Tag war alles andere als aufregend. Vashet brachte mir mit akribischer Beharrlichkeit bei, wie ich mein Schwert zu pflegen hatte. Wie ich es säubern und einölen, zerlegen und wieder zusammensetzenmusste, wie ich die Scheide an Schulter oder Hüfte zu befestigen hatte und wie ich aufgrund der größeren Parierstange einige Griffe und Bewegungsabläufe des Ketan ändern musste.
Das Schwert gehöre nicht mir, sagte Vashet, sondern der Schule, dem Land. Wenn ich einmal nicht mehr kämpfen könne, müsse ich es zurückgeben.
Ich kann es ja eigentlich nicht leiden, wenn sich jemand ständig wiederholt, aber diesmal ließ ich Vashet reden. Es war das Mindeste, was ich tun konnte, denn sie war sichtlich erregt und musste sich beruhigen.
Als sie aber zur fünfzehnten Wiederholung ansetzte, fragte ich, was ich tun sollte, wenn das Schwert zerbrach. Nicht der Griff oder die Parierstange, sondern die Klinge. Sollte ich es trotzdem zurückgeben?
Vashet starrte mich bestürzt, geradezu entsetzt an. Sie antwortete nicht, und ich hütete mich den ganzen Vormittag über, weitere Fragen zu stellen.
Nach dem Mittagessen ging Vashet wieder mit mir zu Magwyns Höhle. Ihre Verfassung hatte sich ein wenig gebessert, aber sie war immer noch weit von ihrer gewohnten Geselligkeit entfernt.
»Magwyn wird dir die Geschichte von Saicere erzählen«, sagte sie. »Du musst sie dir merken.«
»Die Geschichte?«
Vashet zuckte mit den Schultern. »Auf Ademisch heißt sie
atas,
die Geschichte deines
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