Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
haben.«
»Das verstehe ich immer noch nicht. Vielleicht handelt es sich um etwas, das die Barbaren nicht kennen. Erkläre es mir, als wäre ich ein Kind.«
Sie musterte mich einen Augenblick ernst, dann rollte sie sich auf den Bauch, damit sie mich besser ansehen konnte. »Dieser Zorn ist kein Gefühl, sondern …« Sie zögerte und runzelte ihre niedliche Stirn. »Ein Verlangen, etwas Schaffendes, der Wunsch nach Leben.«
Sie sah sich um und ihr Blick fiel auf das Gras, auf dem wir lagen. »Zorn macht, dass das Gras durch den Boden nach oben drängt, der Sonne entgegen. Alles, was lebt, hat Zorn. Er ist das Feuer, das in allem, was lebt, den Drang weckt, sich zu bewegen, zu wachsen und etwas zu schaffen.« Sie legte den Kopf schräg. »Kannst du das verstehen?«
»Schon«, sagte ich. »Und die Frauen übernehmen bei der Liebe den Zorn von den Männern?«
Penthe nickte lächelnd. »Deshalb sind die Männer ja danach so müde. Der Mann gibt etwas von sich selbst, dann verlässt ihn die Kraft und er schläft.« Sie blickte an mir hinunter. »Oder ein Teil von ihm schläft.«
»Nicht lange«, erwiderte ich.
»Das liegt daran, dass du einen so prächtigen, starken Zorn hast«, meinte Penthe stolz. »Wie ich ja bereits gesagt habe. Ich weiß es, weil ich ja etwas davon abbekommen habe. Und ich weiß auch, dass da noch mehr wartet.«
»Stimmt«, gab ich zu. »Aber was tun die Frauen mit dem Zorn?«
»Wir verwenden ihn«, antwortete Penthe schlicht. »Deshalb schlafen die Frauen, anders als die Männer, danach auch nicht immer. Sie fühlen sich wacher, voller Bewegungsdrang. Oft wollen sie auch mehr von dem, was ihnen den Zorn überhaupt gebracht hat.« Sie senkte den Kopf auf meine Brust, biss mich spielerisch und schmiegte sich mit ihrem nackten Leib an mich.
Ich fühlte mich auf angenehmste Weise abgelenkt. »Heißt das, Frauen haben keinen eigenen Zorn?«
Penthe lachte. »Doch, den haben alle Dinge. Aber die Frauen können ihn vielseitig verwenden. Männer dagegen haben mehr davon, als sie gebrauchen können, und mehr, als ihnen gut tut.«
»Wie kann man zu viel von dem Wunsch nach Leben, Wachstum und Schaffen haben? Je mehr man davon hat, desto besser, sollte man meinen.«
Penthe schüttelte den Kopf und strich sich die Haare zurück. »Nein, es ist wie beim Essen. Zwei Mahlzeiten sind nicht besser als eine.« Sie runzelte die Stirn. »Oder nein, wie beim Wein. Ein Becher ist gut, zwei sind manchmal besser, aber zehn …« Sie nickte ernsthaft. »Genau so ist es mit dem Zorn. In einem Mann, der voll davon ist, wirkt er wie Gift. Der Mann will dann zu vieles. Er will alles und wird wunderlich im Kopf und gewalttätig.«
Sie nickte wie zu sich selbst. »Ja, deshalb ist Zorn meiner Meinung nach das richtige Wort. Man merkt es, wenn jemand seinen Zorn die ganze Zeit in sich ansammelt. Der Zorn schlägt dann um, wendet sich gegen sich selbst und entfaltet eine zerstörerische statt schöpferische Kraft.«
»Ich kann mir solche Männer vorstellen«, sagte ich. »Aber auch Frauen.«
»Alle Dinge haben diesen Zorn«, wiederholte Penthe mit einem Schulterzucken. »Ein Stein hat im Vergleich zu einem knospenden Baum nicht viel. Dasselbe gilt für die Menschen. Einige haben mehr, andere weniger. Die einen gebrauchen ihn weise, andere nicht.« Sie lächelte mich breit an. »Ich habe viel davon und deshalb liebe ich das Liebesspiel so sehr und kämpfe so wild.« Sie biss mich wieder in die Brust, diesmal weniger spielerisch, und arbeitete sich dann zu meinem Hals hinauf.
»Aber wenn du den Männern beim Liebesspiel den Zorn nimmst«, sagte ich mühsam konzentriert, »heißt das nicht, dass du immer mehr davon willst, je mehr du hast?«
»Es ist wie mit dem Wasser, mit dem man eine Pumpe in Gang setzt«, sagte sie heiß an meinem Ohr. »Aber jetzt komm, ich will alles von dir haben, auch wenn wir dazu den ganzen Tag und die halbe Nacht brauchen.«
Nach unserer Rückkehr von der Wiese gingen wir ins Badehaus und dann zu Penthe nach Hause. Sie bewohnte zwei gemütliche, an eine Felswand gebaute Zimmer. Der Mond stand am Himmel und sah unsschon seit geraumer Zeit durch das Fenster zu, wobei ich nicht glaube, dass er etwas zu sehen bekam, das er noch nicht kannte.
»Reicht dir das jetzt?«, fragte ich endlich atemlos. Wir lagen nebeneinander auf Penthes wunderbar breitem Bett und ließen den Schweiß auf unseren Körpern trocknen. »Wenn du mir noch mehr Zorn abnimmst, reicht er mir am Ende nicht einmal mehr zum
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