Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
erregender als alles, was ich in meinem jungen Leben bis dahin gesehen hatte.
Noch einen Schritt. Sie lächelte wild und wonnevoll und war schön wie der Mond. Ihre Macht hüllte sie ein gleich einem Mantel, der die Luft aufrührte und sich hinter ihr ausbreitete wie ein gewaltiges, unsichtbares Flügelpaar.
Sie stand so dicht vor mir, dass ich sie berühren konnte, und ich spürte das Vibrieren ihrer Macht in der Luft. Verlangen stieg um mich auf wie die See im Sturm. Felurian hob eine Hand und berührte meine Brust. Ich erschauerte.
Sie erwiderte meinen Blick, und im dämmrigen Violett ihrer Augen sah ich wieder die vier Notenzeilen.
Ich sang sie. Sie brachen aus mir heraus wie Vögel, die ins Freie fliehen.
Plötzlich konnte ich wieder klar denken. Ich atmete tief ein und hielt Felurians Blick fest. Wieder sang ich, diesmal voller Zorn. Ich schrie die Töne förmlich. Sie klangen so hart und scharf wie Eisen, und ich spürte, wie Felurians Macht unter ihrem Klang erzitterte und schließlich zerbrach. Zurück blieb eine nur von Schmerz und Unbehagen erfüllte Leere.
Felurian schrie erschrocken auf und setzte sich so abrupt hin, dass sie fast zu stürzen schien. Sie zog die Knie an die Brust und sah mit großen, ängstlichen Augen zu mir auf.
Ich blickte mich um und sah den Wind. Nicht wie man etwa Rauch oder Nebel sieht, nein, ich sah den unaufhörlich sich wandelnden Wind selbst. Er war mir vertraut wie das Gesicht eines vergessenen Freundes. Ich lachte und breitete die Arme aus, voller Staunen über seine sich verändernde Gestalt.
Ich legte die hohlen Hände aneinander, atmete einen Seufzer hinein und sprach einen Namen. Dann zog ich meinen Atem spinnwebfeinauseinander. Er blähte sich auf, hüllte Felurian ein und züngelte in einer silbernen Flamme auf, die Felurian fest in seinem sich wandelnden Namen einsperrte.
Ich hielt sie über dem Boden. Sie betrachtete mich mit ängstlicher und ungläubiger Miene, und ihr schwarzes Haar tanzte wie eine zweite Flamme innerhalb der ersten.
Da wusste ich, das ich sie töten konnte. Es wäre so einfach gewesen wie ein Blatt Papier in den Wind zu werfen. Doch der bloße Gedanke verursachte mir Übelkeit. Es wäre gewesen, als hätte ich einem Schmetterling die Flügel ausgerissen. Ich hätte etwas Fremdartiges und zugleich Wunderbares zerstört. Ohne Felurian wäre die Welt ärmer gewesen, hätte sie mir weniger gefallen. Als hätte ich Illiens Laute zerstört, als hätte ich nicht nur ein Leben beendet, sondern eine ganze Bibliothek niedergebrannt.
Andererseits standen meine Sicherheit und mein Verstand auf dem Spiel. Ich glaubte, dass die Welt mit Kvothe auch interessanter war.
Doch ich konnte Felurian nicht töten. Nicht so. Nicht indem ich meine neu gefundene Zauberkraft einsetzte wie ein Seziermesser.
Ich sprach wieder, und der Wind drückte Felurian auf die Kissen nieder. Ich machte eine Bewegung, als zerreiße ich etwas, und die silberne Flamme, die mein Atem gewesen war, wurde zu drei Tönen einer Melodie und verklang unter den Bäumen.
Ich setzte mich, Felurian lehnte sich zurück, und wir blickten einander lange an. Die Angst in ihren Augen wurde zu Vorsicht und zuletzt Neugier. Ich sah mich im Spiegel ihrer Augen nackt zwischen den Kissen sitzen. Meine Macht leuchtete wie ein weißer Stern auf meiner Stirn.
Dann spürte ich, wie etwas verging, wie Vergessen einsetzte. Der Name des Windes erfüllte nicht länger meinen Mund, und als ich mich umblickte, sah ich nur Leere. Ich versuchte äußerlich ruhig zu bleiben, aber mir war zumute wie einer Laute, deren Saiten durchtrennt wurden. In mir krampfte sich alles zusammen angesichts eines Verlusts, wie ich ihn seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr empfunden hatte.
Die Luft um Felurian begann zu schimmern, als ein kleiner Rest ihrer Macht zurückkehrte. Ich achtete nicht darauf und versuchtezugleich verzweifelt, mich wenigstens an einen Teil dessen zu erinnern, das ich erfahren hatte. Genauso gut hätte ich eine Hand voll Sand festhalten können. Wer je geträumt hat, er könne fliegen, und beim Aufwachen enttäuscht feststellen musste, dass er nicht mehr wusste, wie es ging, der mag eine Vorstellung davon haben, wie mir zumute war.
Nach und nach verging alles, bis nichts mehr übrig war. Ich fühlte mich innerlich leer, und mir war so weh ums Herz, als hätte ich eben entdeckt, dass meine Eltern mich nie geliebt hätten. Ich spürte einen Kloß im Hals und schluckte.
Felurian musterte mich neugierig.
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