Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
dem zerschmetterten Bein?«
Er nickte. »Und wie ich sie kenne, wird sie ihn auch noch eine ganze Spanne dabehalten.«
»Ich begleite dich zu ihr«, sagte ich zu dem schwitzenden Jason, der sich ängstlich den Arm hielt. »Ich würde ihr gern bei der Arbeit zusehen.«
Da wir weit von jeder Zivilisation entfernt waren, stellte ich mir Gran als bucklige Alte vor, die ihre Patienten mit Blutegeln und Holzgeist behandelte.
Ich änderte meine Meinung, sobald ich ihr Haus betrat. An den Wänden hingen Bündel getrockneter Kräuter, und in den Regalen standen sorgfältig beschriftete Fläschchen. Auf einem kleinen Schreibtisch lagen drei schwere, in Leder gebundene Bücher. Eins war aufgeschlagen. Ich kannte es, es handelte sich um die
Heroborica.
An die Ränder hatte jemand Anmerkungen geschrieben, und einige Einträge waren verbessert oder ganz durchgestrichen.
Gran war nicht so alt, wie ich sie mir vorgestellt hatte, hatte aber schon ziemlich graues Haar. Sie hatte auch keinen Buckel und war sogar etwas größer als ich, mit breiten Schultern und einem runden, lächelnden Gesicht.
Sie hängte einen Kupferkessel über das Feuer und summte dabei vor sich hin. Dann holte sie eine Schere, ließ Jason Platz nehmen und betastete vorsichtig seinen Arm. Der Junge war bleich und schwitzte und redete in seiner Aufregung ununterbrochen, während sie mit einigen raschen Schnitten sein Hemd auftrennte. In kürzester Zeithatte er ihr, ohne dass sie einmal nachfragte, alles über Ellies und Krins Heimkehr erzählt, wenn auch stellenweise etwas durcheinander.
»Ein glatter, sauberer Bruch«, unterbrach sie ihn schließlich. »Was ist passiert?«
Jason warf mir einen Blick zu und sah sofort wieder weg. »Nichts«, sagte er hastig. Dann merkte er, dass er die Frage nicht beantwortet hatte. »Ich meine …«
»Das war ich«, sagte ich. »Deshalb dachte ich auch, ich sollte zumindest mitkommen und sehen, ob ich beim Schienen helfen kann.«
Gran musterte mich. »Hast du damit Erfahrung?«
»Ich habe an der Universität Medizin studiert.«
Sie zuckte die Achseln. »Dann kannst du ja die Schiene halten, während ich sie festbinde. Eigentlich habe ich ein Mädchen, das mir hilft, aber sie ist nach draußen gerannt, als sie das Geschrei auf der Straße hörte.«
Jason sah mich nervös aus einem Augenwinkel an, während ich die hölzerne Schiene an seinen Arm hielt, aber Gran brauchte nicht einmal drei Minuten, um die Schiene mit geübten und zugleich demonstrativ gelangweilten Bewegungen zu befestigen. Ich sah ihr zu und kam zu dem Schluss, dass sie mehr von ihrem Beruf verstand als die Hälfte der Studenten, die ich von der Mediho kannte.
Dann waren wir fertig und sie sah Jason an. »Du hast Glück gehabt«, sagte sie. »Ich musste den Arm nicht einrichten. Schone ihn einen Monat, dann müsste er wieder ganz gesund sein.«
Jason ging, so schnell er konnte, und ich konnte Gran dazu überreden, mich Bil sehen zu lassen, der im Hinterzimmer lag.
Während Jason einen glatten Bruch hatte, war der von Bil so kompliziert, wie ein Bruch nur sein kann. Beide Knochen des Unterschenkels waren gleich mehrfach gebrochen. Ich konnte zwar nicht unter den Verband sehen, aber das Bein war mächtig geschwollen. Die Haut oberhalb des Verbands war aufgeschürft, von Blutergüssen gefleckt und so straff gespannt wie die Haut einer zu prall gefüllten Wurst.
Bil war bleich, aber bei vollem Bewusstsein, und es sah so aus, als werde er das Bein behalten. Inwiefern er es noch verwenden konnte,stand auf einem anderen Blatt. Vielleicht kam er ja mit einem Hinken davon, rennen würde er meiner Einschätzung nach jedenfalls nicht mehr.
»Was sind das für Menschen, die einem das Pferd wegschießen?«, fragte er empört. Sein Gesicht glänzte schweißnass. »Das geht doch nicht.«
Das Pferd hatte natürlich ihm gehört, und die Bewohner dieses Dorfes hatten keine Pferde übrig. Bil war ein junger Mann, frisch verheiratet und Besitzer eines kleinen Bauernhofes, und er würde vielleicht nie wieder gehen können, weil er versucht hatte, das Richtige zu tun. Der Gedanke tat mir weh.
Gran gab ihm zwei Löffel einer Flüssigkeit aus einer braunen Flasche, und daraufhin fielen ihm die Augen zu. Sie schob mich aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
»Ist der Knochen durch die Haut gedrungen?«, fragte ich.
Sie nickte und stellte die Flasche ins Regal zurück.
»Was hast du ihm gegeben, damit die Wunde sich nicht entzündet?«
»Nicht sauer
Weitere Kostenlose Bücher