Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
einen Schluck. Obwohl ich nicht sprechen wollte, hörte ich mich trotzdem etwas sagen. »Mit mir stimmt vielleicht etwas nicht«, sagte ich leise. »Ein normaler Mensch hätte nicht getan, was ich getan habe. Ein normaler Mensch würde nie einfach so Menschen umbringen.«
»Mag sein«, gab Gran zu und nippte an ihrem Becher. »Aber was wäre, wenn ich dir sagte, Bils Bein hätte sich unter dem Verband grünlich verfärbt und rieche süßlich?«
Ich hob erschrocken den Kopf. »Er hat die Fäule?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich sagte doch, es geht ihm gut. Aber wenn es nun so wäre?«
»Dann müssten wir das Bein abnehmen.«
Gran nickte ernst. »Richtig, und zwar schnell, noch heute. Wir dürften nicht zögern und hoffen, dass er es schon irgendwie übersteht. Er würde sterben.« Sie nahm einen kleinen Schluck und sah mich über den Rand ihres Bechers hin an, als habe sie eine Frage gestellt.
Ich nickte, denn ich wusste, dass sie recht hatte.
»Du hast selbst medizinische Kenntnisse«, fuhr sie fort. »Du weißt, dass ein guter Arzt schwere Entscheidungen treffen muss.« Sie sah mich unverwandt an. »Das unterscheidet uns von den anderen. Man brennt jemanden mit einem Eisen, um eine Blutung zu stoppen. Man rettet die Mutter und verliert das Baby. Es ist hart und niemand bedankt sich je bei dir. Aber wir müssen die Entscheidungen treffen.«
Sie nahm wieder einen langsamen Schluck. »Die ersten Male sind die schlimmsten. Man zittert und schläft schlecht. Aber das ist der Preis dafür, dass man tut, was getan werden muss.«
»Es waren auch Frauen dabei«, sagte ich. Die Worte blieben mir fast im Hals stecken.
Grans Augen blitzten. »Sie haben es doppelt verdient.« Die Wut, die plötzlich ihr freundliches Gesicht verzerrte, traf mich vollkommen unvorbereitet. Ein ängstlicher Schauder überlief mich. »Ein Mann, der einem Mädchen so etwas antut, ist wie ein verrückter Hund. Er ist eigentlich kein Mensch mehr, nur ein Tier, das eingeschläfert werden muss. Aber eine Frau, die ihm dabei hilft? Das ist noch schlimmer. Denn sie weiß, was sie tut und was es für das Mädchen bedeutet.«
Gran stellte ihren Becher behutsam auf dem Tisch ab. Ihre Miene war wieder gefasst. »Wenn ein Bein fault, nimmt man es ab.« Sie machte eine entschiedene Bewegung mit der flachen Hand, nahm ihr Stück Kuchen und begann es mit den Fingern zu essen. »Und manche Menschen müssen getötet werden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, kehrte ich nach draußen zurück. Auf der Straße hatten sich noch mehr Menschen versammelt. Der Wirt der Dorfschenke hatte ein Fass vor die Schenke gerollt, und der süße Geruch von Bier erfüllte die Luft.
Krins Eltern waren auf dem Eisenschimmel ins Dorf geritten. Auch Pete war da, er hatte zu Fuß zurückkehren müssen. Er zeigte mir seinen Hals als Beweis dafür, dass er nicht sein Genick gebrochen hatte, und verlangte dann für seine Dienste zwei Pennys.
Krins Eltern dankten mir bewegt. Sie waren brave Leute, wie die meisten Menschen, wenn man sie lässt. Ich nahm die Zügel des Eisenschimmels, zog ihn wie eine tragbare Wand vor mich und konnte mich so einen Moment lang halbwegs ungestört mit Krin unterhalten.
Ihre dunklen Augen waren rot gerändert, aber ihr Gesicht strahlte vor Glück. »Sieh zu, dass du die Graue Hexe bekommst«, sagte ich und wies mit einem Nicken auf eins der Pferde. »Sie gehört dir.« Die Tochter des Bürgermeisters würde sowieso eine anständige Aussteuer haben, deshalb belud ich Krins Pferd mit den wertvolleren Sachen und außerdem dem meisten Geld der Banditen.
Wir sahen uns an, und Krin wurde ernst und erinnerte mich wieder an eine jüngere Denna. »Du gehst«, sagte sie.
Das hatte ich vor. Sie versuchte nicht, mich zum Bleiben zu überreden. Stattdessen umarmte sie mich zu meiner Überraschung plötzlich. Sie küsste mich auf die Wange und flüsterte mir ins Ohr: »Danke.«
Dann gingen wir wieder auseinander, wie es der Anstand gebot. »Verkauf dich nicht unter Wert und heirate keinen Narren«, sagte ich noch, weil ich das Gefühl hatte, etwas sagen zu sollen.
»Du auch nicht«, sagte sie, und in ihren Augen funkelte ein sanfter Spott.
Ich nahm den Eisenschimmel am Zügel, ging mit ihm zum Bürgermeister und musterte die Menge dabei mit dem stolzen Blick des Besitzers. Der Bürgermeister sah mir mit einem Nicken entgegen.
Ich holte tief Luft. »Ist der Wachtmeister hier?«
Der Bürgermeister
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