Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
blickte zwischen den Bäumen hindurch zum dämmrigen Himmel empor. Die Sterne kannte ich nicht. Sie leuchteten heller als die am Himmel der Sterblichen und bildeten fremde Sternbilder.
Erst jetzt wurde mir klar, dass mein Leben eine neue Wendung genommen hatte. Bis dahin hatte ich so getan, als sei ich ein junger Taborlin. Ich hatte mich in ein Gespinst von Lügen gehüllt und mich als märchenhafter Held ausgegeben.
Jetzt hatte die Wirklichkeit mich eingeholt. Ich hatte etwas getan, das selbst zu einer Geschichte taugte und in jeder Beziehung so denkwürdig und wunderbar war wie das, was man sich über Taborlin erzählte. Ich war Felurian ins Reich der Fae gefolgt und hatte sie durch einen Zauber bezwungen, für den ich keine Erklärung hatte und den ich erst recht nicht steuern konnte.
Ich fühlte mich anders, irgendwie gefestigter. Nicht unbedingt älter oder weiser, aber ich wusste nun Dinge, die ich zuvor nicht gewusst hatte. Dass es zum Beispiel die Fae wirklich gab und dass sie zaubern konnten. Dass sich Felurian Männer mit einem Kuss unterwarf, dass sie mich mit ihrer Stimme kommandierte wie eine Marionette. Es gab hier viel für mich zu lernen. Seltsame, geheime Dinge von großer Wirkung, Dinge, die ich vielleicht nur hier lernen konnte.
Behutsam befreite ich mich aus der Umarmung der Schlafenden und ging zu dem nahen Teich. Ich spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht und schöpfte ein paar Handvoll zum Trinken.
Dann betrachtete ich die Pflanzen, die am Ufer wuchsen, pflückte einige Blätter, kaute sie und überlegte, wie ich Felurian auf das Thema lenken sollte, das mich als Nächstes interessierte. Die Minze reinigte und erfrischte meinen Atem.
Bei meiner Rückkehr zur Laube war Felurian aufgestanden und fuhr sich mit ihren weißen Fingern durch das schwarze Haar.
Ich brachte ihr ein Veilchen dar, das so dunkel war wie ihre Augen. Sie lächelte und aß es.
Ich beschloss, mich dem Thema vorsichtig zu nähern, um sie nicht unabsichtlich zu kränken. »Ich habe überlegt, ob du vielleicht bereit wärst, mich zu unterrichten.«
Sie strich mir zärtlich über die Wange. »aber habe ich nicht bereits damit begonnen, du süßer narr?«
Mir wurde ganz heiß vor Aufregung. Ich hatte nicht erwartet, dass es so einfach sein würde. »Und bin ich für die nächste Unterrichtsstunde bereit?«, fragte ich.
Ihr Lächeln wurde breiter, und sie betrachtete mich eingehend mit unergründlichem Blick unter gesenkten Lidern. »fühlst du dich denn bereit?«
Ich nickte.
»dein eifer ist lobenswert.« Ihre schwebende Stimme klang belustigt. »du bist zwar begabt und hast eine rasche auffassung, aber du musst trotzdem noch viel lernen.« Sie sah mir in die Augen, und ihr zartes Gesicht wurde ernst. »du darfst mir keine schande machen, wenn du zu den sterblichen zurückkehrst.«
Sie nahm meine Hand, zog mich in die Laube und zeigte auf die Kissen. »setz dich.«
Gehorsam setzte ich mich. Mein Kopf befand sich auf der Höhe ihres flachen Bauchs, und ich konnte den Blick kaum von ihrem betörenden Nabel abwenden.
Stolz und majestätisch wie eine Königin blickte sie auf mich herab.
»amouen«,
sagte sie und spreizte die Finger einer Hand. »so nennen wir den ›schweigenden hirsch‹. eine einfache lektion für den anfang, die dir bestimmt gefallen wird.«
Sie lächelte mich mit alten, wissenden Augen an. Und noch bevor sie mich wieder in die Kissen drückte und in meinen Hals biss,wusste ich, dass sie mich nicht im Zaubern zu unterrichten gedachte. Oder wenn doch, dann in einem Zaubern ganz anderer Art.
Ich hatte mir zwar eine Unterweisung anderer Art erhofft, doch muss ich gestehen, dass ich nicht übermäßig enttäuscht war. Von Felurian in die Künste der Liebe eingeführt zu werden überstieg den an der Universität gebotenen Lehrstoff bei weitem.
Ich meine damit nicht den schweißtreibenden Ringkampf, mit dem die meisten Männer – und leider auch die meisten Frauen – die Liebe verwechseln. Er hat natürlich auch seine Reize, aber Felurian machte mich auf verstecktere Qualitäten der Liebe aufmerksam. Wenn ich in die Welt der Menschen zurückkehre, sagte sie, dürfe ich ihr nicht als unfähiger Liebhaber Schande machen. Entsprechend umfassend war ihr Unterricht.
Einiges benannte sie mit Namen: so die Handgelenkfessel, den Ohrenseufzer, den Nackenbiss, das Lippenziehen, den Kuss der Kehle, des Bauchnabels und der – wie Felurian es ausdrückte – Blume der Frau, den Hauchkuss, den Federkuss und
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