Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
ohne jede Erinnerung erwachte. Ich spürte dann nur einen Schmerz in der Brust und eine Leere im Kopf ähnlich der blutigen Lücke, die ein ausgefallener Zahn hinterlässt.
Als ich das erste Mal so aufwachte, saß Felurian neben mir und beobachtete mich. Sie sah mich so zärtlich besorgt an, dass ich erwartete, sie würde gleich leise etwas murmeln und mir über die Haare streichen, wie Auri es vor einigen Monaten in meinem Zimmer getan hatte.
Doch Felurian tat nichts dergleichen. »geht es dir gut?«, fragte sie.
Ich wusste darauf keine Antwort. Ein wirres Durcheinander aus Erinnerungen und Kummer erfüllte mich. Da ich fürchtete, erneut in Tränen auszubrechen, sobald ich etwas sagte, schüttelte ich nur stumm den Kopf.
Felurian beugte sich über mich, küsste mich auf einen Mundwinkel, betrachtete mich forschend und richtete sich wieder auf. Dann ging sie zum Teich und brachte mir von dort in ihren hohlen Händen einen Schluck Wasser zu trinken.
In den folgenden Tagen bedrängte sie mich nicht mit Fragen und versuchte auch nicht, mich auszuhorchen. Manchmal erzählte siemir eine Geschichte, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren und verstand noch weniger als sonst. An einigen Stellen brach ich in hemmungsloses Schluchzen aus, obwohl die Geschichten überhaupt nicht traurig waren.
Einmal war sie verschwunden, als ich aufwachte. Erst Stunden später kehrte sie mit einer sonderbaren grünen Frucht zurück, die größer war als mein Kopf. Sie überreichte sie mir mit einem scheuen Lächeln und zeigte mir, wie man die dünne, ledrige Schale abzog, um an das orangefarbene Fruchtfleisch zu gelangen. Das breiige, würzigsüße Fleisch löste sich in spiraligen Stücken.
Wir aßen stumm, bis nur noch ein runder, harter und schlüpfrig glatter Kern übrig war. Er war dunkelbraun und so groß, dass ich die Hand nicht darum schließen konnte. Felurian schlug ihn gegen einen Felsen und präsentierte ihn mir mit einer kleinen Verbeugung. Er war innen vollkommen trocken, wie eine geröstete Nuss. Wir verspeisten auch ihn. Er schmeckte irgendwie rauchig und nach Pfeffer und erinnerte mich vage an geräucherten Lachs.
Innerhalb dieses Kerns befand sich ein zweiter, der weiß war wie ein Knochen und die Größe einer Murmel hatte. Felurian gab ihn mir. Er schmeckte zuckersüß und war etwas klebrig, wie ein Karamellbonbon.
Ein anderes Mal ließ Felurian mich wieder endlose Stunden allein und kehrte schließlich mit zwei braunen Vögeln zurück, die sie behutsam in den Händen hielt. Die Vögel waren kleiner als Spatzen und hatten auffällige laubgrüne Augen. Felurian setzte sie neben mich auf ein Kissen und pfiff. Daraufhin begannen die Vögel zu singen. Sie zwitscherten nicht irgendwas, sondern sangen ein richtiges Lied, vier Strophen mit einem Refrain dazwischen. Zuerst sangen sie zusammen, dann in zwei einfachen verschiedenen Stimmen.
Einmal gab Felurian mir beim Aufwachen ein Getränk in einem Lederbecher. Es roch nach Veilchen und schmeckte nach rein gar nichts, fühlte sich im Mund aber wunderbar warm und klar an, als tränke ich das Licht der Sommersonne.
Dann wieder brachte sie mir einen glatten, roten Stein, der warm in der Hand lag. Nach einigen Stunden schlüpfte daraus wie auseinem Ei ein Geschöpf ähnlich einem kleinen Eichhörnchen, das mich mit wütendem Gezwitscher ausschimpfte und später weglief.
Einmal lag Felurian beim Aufwachen nicht neben mir. Als ich mich nach ihr umsah, saß sie am Ufer des Teichs und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Sie sang so leise vor sich hin, dass ich sie kaum hörte. Es klang fast wie ein Schluchzen.
So verging die Zeit. Ich schlief ein und wachte wieder auf. Felurian schenkte mir einen Ring, den sie aus einem Blatt gemacht hatte, eine Traube goldener Beeren, eine Blüte, die sich öffnete und schloss, wenn man sie mit dem Finger berührte …
Und einmal, als ich mit nassem Gesicht und schmerzender Brust aus dem Schlaf hochfuhr, legte sie ihre Hand auf meine, eine Geste, die so zaghaft und so ängstlich war, als hätte sie nie zuvor einen Mann berührt. Als fürchte sie, ich könnte unter ihrer Berührung zerbrechen, oder als könne sie sich an mir verbrennen oder von mir gebissen werden. Einen Moment lang lag ihre kühle Hand leicht wie eine Motte auf meiner. Dann drückte sie meine Hand sacht, wartete und zog ihre Hand wieder zurück.
Damals kam mir diese Geste merkwürdig vor. Kummer und Schmerz verwirrten mich, und ich konnte nicht klar denken.
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