Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Gesicht des Wirts keinerlei Verständnis abzeichnete, schüttelte er konsterniert den Kopf. »Diese Blume ist ein Allheilmittel, Reshi. Sie kuriert jede Krankheit, ist ein universelles Gegengift und heilt jede Verletzung.«
Kvothe hob die Augenbrauen, sagte »Ah« und blickte auf seine Hände hinab, die gefaltet auf dem Tisch lagen. »Dann verstehe ich, dass sich die Leute davon angezogen fühlen, obwohl sie es eigentlich besser wissen.«
Dann blickte er wieder auf. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was so schlimm daran sein soll«, sagte er mit entschuldigender Miene. »Ich habe wahre Ungeheuer gesehen, Bast. Dagegen war der Cthaeh gar nichts.«
»Es war nicht das richtige Wort, das ich da gebraucht habe, Reshi«, räumte Bast ein. »Aber mir will einfach kein besseres dafür einfallen. Wenn es ein Wort für etwas gäbe, das ebenso giftig wie bösartig und verderblich ist, würde ich es gebrauchen.«
Bast atmete tief durch und beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Reshi, der Cthaeh kann in die Zukunft sehen. Und das nicht nur auf vage, orakelhafte Weise. Nein, er sieht die
gesamte
Zukunft. Klar und deutlich. Alles, was vom gegenwärtigen Moment an passieren könnte, in unendlich vielen Verzweigungen.«
Kvothe hob eine Augenbraue. »Das kann er tatsächlich?«
»Ja, das kann er tatsächlich«, erwiderte Bast in ernstem Ton. »Und er ist abgrundtief böse. Meist ist das kein Problem, denn er kann den Baum nicht verlassen. Wenn aber jemand zu ihm kommt …«
Kvothe nickte gedankenverloren vor sich hin. »Wenn er die Zukunft ganz genau kennt«, sagte er langsam, »weiß er ja auch, wie jemand auf das, was er ihm sagt, reagieren wird.«
Bast nickte. »Und er ist, wie gesagt, bösartig.«
Kvothe fuhr nachdenklich fort: »Das heißt: Jemand, der vom Cthaeh beeinflusst wurde, gleicht einem in die Zukunft abgeschossenen Pfeil.«
»Ein Pfeil trifft nur eine einzelne Person«, sagte Bast, und seine dunklen Augen blickten gequält und hoffnungslos. »Jemand, der vom Cthaeh beeinflusst wurde, gleicht eher einem Seuchenschiff, das auf einen Hafen zuhält.« Bast deutete auf das halb beschriebene Blatt, das der Chronist nun auf dem Schoß hielt. »Wenn die Sithe wüssten, dass so etwas existiert, würden sie keine Mühe scheuen, es zu vernichten. Sie würden uns töten, weil wir erfahren haben, was der Cthaeh gesagt hat.«
»Weil alles, was den Einfluss des Cthaeh von diesem Baum fortträgt …«, sagte Kvothe und sah auf seine Hände. Er saß einen Moment lang schweigend da und nickte nachdenklich vor sich hin. »Ein junger Mann, der sein Glück machen will, geht zu dem Cthaeh und kehrt von dort mit einer Blume wieder. Die Tochter des Königs ist todkrank, und er bringt ihr die Blume und heilt sie damit. Die beiden verlieben sich ineinander, obwohl sie dem Prinzen eines Nachbarlands versprochen ist …«
Bast starrte Kvothe an.
»Die beiden wagen bei Nacht und Nebel einen Fluchtversuch«, fuhr Kvothe fort. »Doch der junge Mann stürzt vom Dach, und die Flucht misslingt. Die Prinzessin wird gegen ihren Willen verheiratet, und in der Hochzeitsnacht ersticht sie den Prinzen des Nachbarlands. Ein Bürgerkrieg bricht aus. Felder werden niedergebrannt und versalzen. Hungersnöte … Seuchen …«
»Das ist die Geschichte des Fastingsway-Kriegs«, sagte Bast leise.
Kvothe nickte. »Es ist eine der Geschichten, die Felurian mir erzählt hat. Das mit der Blume hatte ich bisher nicht verstanden. Sie hat den Cthaeh nie erwähnt.«
»Kein Wunder, Reshi. Das bringt nämlich Unheil.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Unheil ist nicht das richtige Wort. Das wäre, alswürde man jemandem Gift ins Ohr speien. Das macht man einfach nicht.«
Der Chronist hatte die Fassung weitgehend wiedergefunden und rutschte mit seinem Stuhl an den Tisch zurück, wobei er das Blatt Papier weiterhin in sicherem Abstand hielt. Er betrachtete stirnrunzelnd die beschädigte Tischplatte, die mit Bier- und Tintenflecken übersät war. »Dieses Wesen scheint ja einen ziemlichen Ruf zu genießen«, sagte er. »Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass es tatsächlich so gefährlich ist …«
Bast sah den Chronisten ungläubig an. »Eisen und Galle«, fluchte er, wobei seine Stimme aber ganz ruhig blieb. »Haltet Ihr mich für ein kleines Kind? Glaubt Ihr, ich könnte eine Lagerfeuergeschichte nicht von der Wahrheit unterscheiden?«
Der Chronist machte eine beschwichtigende Handbewegung. »So habe ich das nicht gemeint …«
Ohne den Blick von dem
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