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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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sehr vielen Wörtern, die alle eine genaue Bedeutung besaßen. Ademisch dagegen ähnelte einem tiefen Brunnen. Es hatte weniger Wörter, dafür besaß jedes Wort mehrere Bedeutungen. Ein gut formulierter Satz auf Aturisch ist wie eine geradeLinie, die in eine bestimmte Richtung zeigte. Ein entsprechender Satz im Ademischen ist wie ein Spinnennetz: jeder Faden hat eine eigene Bedeutung und ist Teil eines größeren, komplexen Ganzen.

     
    Viel besser gestimmt als zuvor kehrte ich zum Abendessen in den Speisesaal zurück. Die Striemen auf Rücken und Wange brannten zwar noch, aber ich spürte mit meinen Fingern, dass die Schwellung auf der Wange bereits deutlich abgeklungen war. Ich saß immer noch für mich allein am Tisch, hielt den Kopf aber nicht mehr gesenkt wie noch beim Mittagessen. Stattdessen beobachtete ich die Hände der anderen und versuchte die feinen Bedeutungsunterschiede zwischen
Neugier
und
Interesse, Ablehnung
und
Weigerung
zu erkennen.
    Nach dem Essen kam Vashet mit einem kleinen Tiegel Salbe, mit der sie mir großzügig den Rücken einrieb und dann etwas sparsamer das Gesicht. Ich spürte zuerst ein Kribbeln und Brennen, dann eine taube, dumpfe Wärme. Erst als das Brennen nachließ, merkte ich, wie angespannt ich am ganzen Körper gewesen war.
    »So«, sagte Vashet und verschloss den Tiegel wieder mit einem dicken Korken. »Wie fühlte sich das an?«
    »Ich könnte dich küssen«, sagte ich dankbar.
    »Das könntest du natürlich, aber mit deiner dicken Lippe würde das nichts werden. Zeig mir lieber deinen Ketan.«
    Ich hatte an diesem Tag noch keine Dehnübungen gemacht, wollte mich aber nicht drücken. Also nahm ich die Stellung der Offenen Hände ein und arbeitete mich langsam weiter.
    Wie bereits erwähnt, unterbrach Tempi mich gewöhnlich, sobald ich den kleinsten Fehler machte. Als ich deshalb ohne Unterbrechung bei der zwölften Stellung angelangt war, war ich sehr stolz. Doch dann passierte mir beim Pflaumenpflücken ein schwerer Stellungsfehler. Als Vashet immer noch nichts sagte, begriff ich, dass sie mir nur zusah und sich ihr Urteil bis zum Ende aufhob. Ich begann zu schwitzen und machte verbissen zehn Minuten bis zum Ende des Ketan weiter.
    Als ich fertig war, stand Vashet auf und strich sich über das Kinn. »Hm«, sagte sie langsam, »es könnte auf jeden Fall schlimmer sein …« Ich fühlte mich schon ein wenig geschmeichelt, da fuhr sie fort: »… wenn du zum Beispiel nur ein Bein hättest.«
    Sie ging um mich herum und musterte mich eingehend. Verschiedentlich streckte sie die Hand aus und drückte mich in Brust und Bauch. Sie betastete meine Oberarme und den dicken Muskel oberhalb meines Beines. Ich kam mir vor wie ein Spanferkel auf dem Markt.
    Zuletzt fasste sie mich an den Händen, drehte sie um und betrachtete sie. Sie schien angenehm überrascht. »Du hast nie gekämpft, bevor Tempi es dir beigebracht hat?«, fragte sie.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Du hast gute Hände«, sagte sie. Sie strich mit den Fingern über meine Unterarme und befühlte die Muskeln. »Die Hälfte von euch Barbaren hat vom Nichtstun weiche, schwache Hände. Die andere Hälfte hat vom Holzhacken oder Pflügen starke, grobe Hände.« Sie drehte meine Hände in den ihren. »Aber du hast starke und kluge Hände und bewegliche Handgelenke.« Sie hob fragend den Kopf. »Wovon bestreitest du deinen Lebensunterhalt?«
    »Ich bin Student der Universität und arbeite dort mit Werkzeugen zur Bearbeitung von Metall und Stein«, erklärte ich. »Außerdem bin ich Musiker. Ich spiele Laute.«
    Vashet sah mich erschrocken an und brach dann in Lachen aus. Sie ließ meine Hände los und schüttelte bestürzt den Kopf. »Auch das noch«, sagte sie. »Ein Musiker. Wunderbar. Wer weiß davon?«
    »Warum?«, fragte ich. »Ich schäme mich nicht dafür.«
    »Nein, natürlich nicht. Das ist ja unter anderem das Problem.« Vashet atmete tief durch. »Also gut, ich sage es dir lieber gleich, damit sparen wir uns langfristig eine Menge Ärger.« Sie sah mich an. »Du bist eine Hure.«
    Ich erwiderte ihren Blick entgeistert. »Wie bitte?«
    »Hör mir bitte kurz zu. Du bist ja nicht schwer von Begriff und hast bestimmt schon bemerkt, dass es riesige Unterschiede gibt zwischen hier und dem Land, in dem du aufgewachsen bist …«
    »Dem Commonwealth?«, fiel ich ein. »Da hast du recht. Im Vergleichzu den anderen Söldnern aus Vintas waren die Unterschiede zwischen Tempi und mir riesig.«
    Vashet nickte. »Was natürlich zum

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