Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Teil auch daran liegt, dass Tempi keine Unze Verstand im Kopf hat und in weltlichen Dingen so naiv ist wie ein Neugeborener.« Sie machte eine Handbewegung. »Aber davon abgesehen hast du recht. Die Unterschiede sind immens.«
Ich nickte. »Zum Beispiel scheint es euch nichts auszumachen, nackt herumzulaufen. Oder aber Tempi ist ein Exhibitionist.«
»Würde mich ja interessieren, wie du das herausgefunden hast.« Vashet kicherte. »Aber stimmt. So seltsam es für dich klingen mag, wir haben tatsächlich keine Angst vor einem nackten Körper.«
Sie sah mich nachdenklich an und schien zu einem Entschluss zu gelangen. »Es ist wahrscheinlich am einfachsten, wenn ich es dir zeige. Sieh mir zu.«
Ich sah also zu, wie ihr Gesicht den für die Adem typischen teilnahmslosen Ausdruck annahm, bis es so leer war wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Auch ihre Stimme klang auf einmal monoton und ausdruckslos. »Sage mir, was ich jetzt mache.«
Sie trat auf mich zu, ohne mich anzusehen. Mit der Hand machte sie die Bewegung für
Respekt.
»Du kämpfst wie ein Tiger.« Ihr Gesicht war unbewegt, ihre Stimme klang ruhig und eintönig. Sie fasste mich mit der einen Hand an der Schulter, mit der anderen nahm sie meinen Arm und drückte ihn.
»Du lobst mich«, sagte ich.
Vashet nickte und trat zurück. Dann veränderte sie sich. Ihr Gesicht belebte sich, sie sah mich lächelnd an und trat dicht vor mich. »Du kämpfst wie ein Tiger«, sagte sie. In ihrer Stimme schwang Bewunderung. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter, mit der anderen umfasste sie meinen Oberarm und drückte ihn.
Ihre Nähe machte mich auf einmal verlegen. »Das ist ein Annäherungsversuch«, sagte ich.
Vashet trat wieder zurück und nickte. »Ihr empfindet bestimmte Dinge als intim. Nackte Haut, Körperkontakt, die Nähe eines anderen Körpers, Streicheln und Küssen. Für die Adem ist das nichts Besonderes.«
Sie sah mich an. »Hast du ein einziges Mal einen von uns schreien hören? Die Stimme erheben? Oder auch nur so laut sprechen, dass alle ihn verstehen?«
Ich überlegte kurz und schüttelte den Kopf.
»Das liegt daran, dass das Sprechen für uns etwas Privates ist, wie übrigens auch die Mimik. Oder das.« Sie drückte sich die Finger an den Hals. »Wie die Wärme, die von einer Stimme ausgehen kann, und die damit verbundenen Gefühle. Das ist für uns sehr intim.«
»Und nichts ist stärker mit Gefühlen verbunden als Musik«, sagte ich und nickte. Die Vorstellung war so seltsam, dass ich mich erst daran gewöhnen musste.
Vashet nickte ernst. »Die Mitglieder einer Familie singen vielleicht zusammen, wenn sie sich nahe stehen. Eine Mutter singt vielleicht ihrem Kind etwas vor oder eine Frau ihrem Mann.« Bei diesen Worten errötete Vashet ein wenig. »Aber nur, wenn sie sich sehr lieb haben und wenn sie allein sind.«
Sie zeigte auf mich. »Aber du als Musiker? Du spielst vor einem ganzen Saal, vor vielen Menschen gleichzeitig. Und wofür? Ein paar Pennys? Eine Mahlzeit?« Sie sah mich ernst an. »Und dasselbe tust du immer wieder, Abend für Abend. Vor ganz beliebigen Menschen.«
Sie schüttelte den Kopf, erschauerte und machte mit der linken Hand unwillkürlich die Gesten für
Erschrecken, Abscheu
und
Tadel.
Auf beiden Ebenen zugleich emotionale Zeichen von ihr zu empfangen war furchterregend.
Ich sah mich auf einmal nackt auf der Bühne des EOLIAN stehen. Dann schob ich mich nackt durch die Zuhörer und drückte mich an sie, egal ob sie jung oder alt waren, dick oder dünn, reich, adlig oder mittellos. Es war eine ernüchternde Vorstellung, und ich verdrängte sie rasch.
»Aber die achtunddreißigste Stellung des Ketan heißt Lautenspiel«, protestierte ich. Ich klammerte mich an einen Strohhalm, das war mir klar.
»Und die zwölfte Schlafender Bär.« Vashet zuckte mit den Schultern. »Doch es gibt hier weder Bären noch Löwen, noch Lauten. Manche Namen enthüllen etwas. Die Namen des Ketan dagegen sollendie Wahrheit verbergen, damit wir über sie sprechen können, ohne ihre Geheimnisse der Öffentlichkeit preiszugeben.«
»So ist das also«, sagte ich nach kurzem Schweigen. »Aber viele von euch sind doch in der Welt herumgekommen. Du selbst sprichst ein schönes und sehr ausdrucksvolles Aturisch. Bestimmt weißt du auch, dass jemand, der singt, nicht zwangsläufig ein schlechter Mensch ist.«
»Du kennst die Welt ebenfalls«, erwiderte Vashet ruhig. »Und du weißt auch, dass es nicht zwangsläufig schlecht ist, wenn man es in
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