Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
richtig wieder zusammengesetzt.
Als ich endlich wieder so weit zu mir gekommen war, dass ich mich umsehen konnte, war ich allein.
Kapitel 120
Ein Lächeln
Z wei Stunden später saß ich einsam im Speisesaal. Ich hatte Kopfschmerzen und meine Wange war heiß und geschwollen. Außerdem musste ich mir irgendwann in die Zunge gebissen haben, denn das Kauen tat mir weh und alles schmeckte nach Blut. Meine Laune war entsprechend so, wie ihr es euch jetzt vorstellt, nur noch schlechter.
Als ich sah, dass sich eine rote Gestalt mir gegenüber auf die Bank schob, hatte ich Angst, aufzublicken. Carceret wäre schlimm gewesen, aber Vashet noch schlimmer. Ich hatte mit dem Essen eigens gewartet, bis der Speisesaal fast leer war, in der Hoffnung, den beiden aus dem Weg gehen zu können.
Als ich dann doch den Blick hob, sah ich, dass es Penthe war, die kriegerische junge Frau, die Shehyn besiegt hatte.
»Guten Tag«, sagte sie mit einem leichten Akzent auf Aturisch.
Ich machte die Geste für
höfliche, förmliche Begrüßung.
In Anbetracht des bisherigen Tagesverlaufs hielt ich es für geraten, größtmögliche Vorsicht walten zu lassen. Aufgrund von Vashets Bemerkungen musste ich annehmen, dass Penthe ein hochrangiges und allseits geachtetes Mitglied der Schule war.
Dafür war sie noch erstaunlich jung. Es mochte an ihrer kleinen Gestalt oder ihrem herzförmigen Gesicht liegen, sie sah jedenfalls nicht viel älter aus als zwanzig.
»Können wir uns in deiner Sprache unterhalten?«, fragte sie auf Aturisch. »Das wäre sehr freundlich. Ich muss mich im Sprechen üben.«
»Von mir aus sehr gern«, antwortete ich ebenfalls auf Aturisch.»Du sprichst schon sehr gut und ich bin ganz eifersüchtig. Wenn ich Ademisch spreche, komme ich mir vor wie ein großer Bär, der in schweren Stiefeln durch die Gegend trampelt.«
Penthe lächelte schüchtern, hielt sich die Hand vor den Mund und errötete ein wenig. »Darf man eigentlich lächeln?«
»Man darf es und es ist durchaus angemessen. Du hast nur wenig gelächelt, was sehr gut passt, weil ich nur einen kleinen Scherz gemacht habe.«
Penthe nahm die Hand vom Mund und wiederholte das schüchterne Lächeln. Sie war so anmutig wie eine Frühlingsblume und es tat mir in der Seele gut, sie anzusehen.
»Normalerweise würde ich dein Lächeln mit einem Lächeln erwidern«, sagte ich. »Aber hier fürchte ich, andere könnten das für unhöflich halten.«
»Bitte«, sagte sie und machte für alle sichtbar einige deutliche Gesten für
mutige Aufforderung, inständige Bitte
und
herzliche Einladung
. »Ich muss üben.«
Ich lächelte, allerdings nicht so breit, wie ich es unter anderen Umständen getan hätte, zum einen aus Vorsicht, aber auch, weil mein Gesicht schmerzte. »Es tut gut, wieder einmal zu lächeln«, sagte ich.
»Ich bin wegen meines Lächelns … ängstlich.« Penthe wollte eine Geste machen, brach aber ab. Ihre Miene veränderte sich, und sie kniff die Augen zusammen, als ärgere sie sich.
»Du meinst das?« Ich machte die Handbewegung für
verunsichert.
Sie nickte. »Wie drückt man das mit dem Gesicht aus?«
»Es geht so.« Ich zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. »Und als Frau macht man dazu noch das.« Ich schürzte leicht die Lippen. »Und als Mann das.« Ich zog die Mundwinkel nach unten.
Penthe starrte mich verwirrt an.
Entgeistert.
»Männer und Frauen machen verschiedene Dinge?« Sie klang fassungslos.
»Nicht alle«, beruhigte ich sie. »Und nur bei Kleinigkeiten.«
»Es gibt so vieles zu beachten.« Sie klang ein wenig verzweifelt. »Bei der eigenen Familie weiß man, was jede kleine Veränderung der Mimik bedeutet. Man wächst damit auf und kennt alles in- und auswendig. Mit den Freunden der Kindheit hat man es auch leicht. Man lacht über alles. Aber das …« Sie schüttelte den Kopf. »Woher sollman wissen, wann es richtig ist, die Zähne zu zeigen? Wie oft berührt man sich mit den Blicken?«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte ich. »Mir geht es ähnlich. In meiner eigenen Sprache bin ich zu Hause und kann die klügsten Dinge sagen, aber hier nützt mir das alles nichts.« Ich seufzte. »Es ist so anstrengend, das Gesicht nicht zu bewegen. Ich habe das Gefühl, als hielte ich fortwährend die Luft an.«
»Aber manchmal bewegen wir das Gesicht auch«, sagte Penthe. »Zum Beispiel in Gesellschaft von …« Sie verstummte und machte eine rasche Geste für
Entschuldigung.
»Ich habe keine Freunde«, sagte ich.
Bedauern.
»Ich hatte
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