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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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seltsam sinnlose, phantastische Geschichten erzählte. Eine handelte von einem Jungen, der Schuhe auf dem Kopf balancierte, um zu verhindern, dass eine Katze getötet wurde, eine andere von einer Familie, die vorhatte, Stein für Stein einen ganzen Berg aufzuessen. Ich verstand nicht, was die Geschichten sollten, hörte ihm aber höflich zu und trank das süße Bier, das er mir vorsetzte.
    Des weiteren lernte ich Zwillingsschwestern kennen, die Kerzen herstellten und mir die Schritte einiger sonderbarer Tänze zeigten. Einen Nachmittag verbrachte ich mit einem Holzfäller, der stundenlang von nichts anderem als Holzfällen sprach.
    Zuerst hielt ich diese Menschen für wichtige Mitglieder der Gemeinde. Ich glaubte, Vashet führe mich ihnen vor, um zu zeigen, wie viel ich schon gelernt hätte.
    Erst als ich einen Vormittag mit Zweifinger verbrachte, wurde mir klar, dass sie mich zu diesen Menschen schickte, weil ich etwas lernen sollte.
    Zweifinger hieß nicht in Wirklichkeit so, ich nannte ihn nur in Gedanken so. Er war der Koch der Schule und ich sah ihn bei jeder Mahlzeit. Seine linke Hand war gesund, die rechte dagegen furchtbar verstümmelt. Nur noch Daumen und Zeigefinger waren von ihr übrig.
    Vashet schickte mich eines Morgens zu ihm und gemeinsam bereiteten wir das Mittagessen zu und unterhielten uns dabei. Der Koch hieß Naden und hatte zehn Jahre bei den Barbaren verbracht. In der Zeit vor seiner Verletzung, als er noch kämpfen konnte, hatte er über zweihundertdreißig Talente für die Schule verdient. Davon sprach er wiederholt, und ich schloss daraus, dass es ihn besonders stolz machte.
    Die Glocke läutete und die Schüler strömten in den Speisesaal. Naden verteilte den Eintopf, den wir gemacht hatten, eine dicke, heiße Suppe mit Fleisch- und Karottenstücken. Ich schnitt für alle, die Brot dazu essen wollten, warmes Weißbrot in Scheiben, nickte den Wartenden zu und tauschte hin und wieder eine höfliche Geste aus. Außerdem achtete ich darauf, dass ich ihnen dabei nur ganz kurz in die Augen blickte, und ich redete mir ein, es sei Zufall, dass sich an diesem Tag nur so wenige für das Brot interessierten.
    Carceret zeigte ihre Gefühle ganz offen und für alle sichtbar. Als sie am Kopf der Schlange stand, bekundete sie zuerst mit einer deutlichen Gebärde ihren
tiefsten Abscheu,
dann ließ sie ihren hölzernen Teller stehen und ging.
    Später besorgten Naden und ich noch den Abwasch. »Vashet sagt, du machst im Schwertkampf nur langsam Fortschritte«, sagte er unvermittelt. »Sie meint, du hättest Angst um deine Hände, und das ließe dich zögern.«
Strenger Tadel.
    Ich erschrak über seine schroffe Ausdrucksweise und unterdrückte den Drang, seine verstümmelte Hand anzustarren. Da ich fürchtete, die Stimme könnte mir versagen, nickte ich nur.
    Naden richtete sich von dem eisernen Topf auf, den er gerade schrubbte, und hielt seine Hand vor sich hin. Es war eine trotzige Bewegung, und sein Gesicht war zu einer grimmigen Maske erstarrt. Auch ich sah die Hand jetzt an, um nicht unhöflich zu sein. Nur noch Daumen und Zeigefinger waren übrig, genug, um etwas zu greifen, aber nicht genug für feinere Arbeiten. Der Rest der Hand bestand aus runzligen Narben.
    Ich verzog keine Miene, aber es fiel mir schwer. In gewisser Weise sah ich meinen schlimmsten Albtraum vor mir. Ich musste an meinegesunden Hände denken und war versucht, sie zu Fäusten zu ballen oder hinter dem Rücken zu verstecken.
    »Diese Hand hat seit einem Dutzend Jahre kein Schwert mehr gehalten«, sagte Naden.
Stolz, Wut
und
Bedauern.
»Ich habe viel über den Kampf nachgedacht, in dem ich meine Finger verloren habe. Ich habe sie nicht einmal an einen würdigen Gegner verloren, sondern an einen Barbaren, dessen Hände mit einer Schaufel besser umgehen konnten als mit einem Schwert.«
    Er bewegte die beiden übriggebliebenen Finger. In gewisser Weise hatte er noch Glück gehabt. Andere Adem in Haert hatten ganze Hände, ihre Augen oder Gliedmaßen bis zum Ellbogen oder Knie eingebüßt.
    »Ich habe lange nachgedacht. Wie hätte ich meine Hand retten können? Ich denke immer wieder an den Vertrag, der mich verpflichtete, einen Herrn zu schützen, dessen Untertanen rebellierten. Ich denke: Was wäre, wenn ich diesen Vertrag nicht geschlossen hätte? Oder wenn ich die linke Hand verloren hätte? Ich könnte dann zwar kein Gespräch führen, dafür aber ein Schwert halten.« Er ließ die Hand sinken. »Aber ein Schwert zu halten ist nicht

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