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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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eine Handbreit zu weit, und dann schoß ihr Säbel vor, die Spitze ritzte die Nase des Goblins. Hin und wieder stach sie auch spielerisch nach den ungeschützten Unterschenkel der rot behaarten Kreatur. Auch an den Goblinbeinen rannen dünne Blutfäden hinab.
    Der ungleiche Kampf dauerte endlos lange. Inzwischen waren die Bauersleute aus dem Haus gekommen und hatten sich zu uns gesellt. Ich weiß nicht, warum ich dem unwürdigen Geschehen kein Ende machte. Es lag etwas in Mädchens Blick, das mich daran hinderte.
    Irgendwann warf der Goblin die Axt zur Seite und ließ sich auf die Knie fallen. Mädchen ergriff ihren Säbel mit beiden Händen und holte weit aus. Dann sauste die Klinge herab, um genau am Hals des aufheulenden Gegners zu erstarren. Mädchen gab ihm einen Tritt vor die Brust und wandte sich ab. Einen Augenblick lang kauerte der Goblin regungslos vor uns und schaute zu uns hoch. Niemand von uns sagte etwas. Da begann er, ganz langsam aus unserem Kreis zu kriechen. Erst als er zwanzig Mannslängen hinter sich gebracht hatte, sprang er auf und rannte davon, seinen Gefährten hinterher. Mädchen hob die Doppelblattaxt vom Boden auf, wog sie prüfend in der Hand – so als hätte sie schon hundert Äxte in der Hand gehalten – und warf sie wieder fort.
     
     
     

 
     
    Ulissa horchte auf. Sie sah plötzlich eine verheißungsvolle Möglichkeit. Sollte Yppolita die strengen Zölibatregeln für eine Amazonenkönigin nicht kennen? War die Mutter gestorben, bevor sie die ältere Tochter in die Bestimmungen eingewiesen hatte?
    »Du weißt, wie du dich den Männern gegenüber zu verhalten hast?«
    »Gewiß, ich soll mich nicht mit ihnen einlassen, und ich darf niemals einen von ihnen in meinen Gemächern empfangen.«
    »Tatsächlich – ist das so?«
    »Ich denke schon. Aber gewiß ist es doch kein Verbrechen, wenn ich auf einem Ausritt mit einem Mann spreche?«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Ulissa. Dabei mußte sie an eine Bestimmung denken, in der es hieß, daß jeder Mann, der es wagte, das Wort ungefragt an die Königin zu richten, auf der Stelle von der Königin selbst zu bestrafen sei.
    Nachdem sie das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, durfte die Königin sich zu einem Mann legen, den sie frei wählte. Dies war notwendig, damit das Amazonenvolk nicht ohne Königin blieb, und damit das Volk nicht ausstarb, gab es auch für die Untertanen eine Bestimmung ähnlicher Art. Sobald eine Amazone, Kriegsweib oder Königin, zwei Töchter geboren hatte, durfte sie sich nicht mehr zu einem Mann legen. Ohne Lust sollte sie das Lager teilen und immer an das Wohl ihres Volkes denken. Legte eine Amazone sich zu einem Mann und empfand sie Lust ...
    Es gab in der Schloßbibliothek mehrere alte Schriftrollen, die nichts anderes enthielten als Vorschriften über den Umgang mit den Männern und das ›Liegen beim Mann‹. Manche Regeln waren kaum zu verstehen, andere widersprachen sich. Aber in einem Punkt stimmten sie alle überein: Die Königin der Amazonen hatte bis zum Erreichen des fünfundzwanzigsten Lebensjahres jeden Umgang mit Männern unbedingt zu vermeiden.
    Nach kurzer Suche hatte Ulissa den Bauernjungen gefunden, der ihrer Schwester so gut gefallen hatte. Sie erzählte ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß die schöne Yppolita, die stolze Königin der Amazonen, sich in ihn verliebt hätte.
    Der junge Mann war entweder überaus mutig oder ungeheuer dumm, jedenfalls begann er, Yppolita auf ihren Ritten nachzustellen.
     
    Es erwies sich, daß die Bauernfamilie eine wohlgefüllte Vorratskammer besaß. Ich aß die köstlichste Kohlsuppe meines Lebens, das zarteste, schmackhafteste Fleisch, die süßeste Grütze. Bissen um Bissen schob ich in mich hinein und stellte mir vor, wie die Speise meine Magenwände auseinanderschob, bis wieder ein sicherer Abstand zwischen ihnen war. Ich war gerettet. Der Bauer und seine Familie waren Nivesen, eingewandert aus Aventuriens Norden. Harme, der Bauer, seine beiden erwachsenen Söhne, Alko und Arl, sowie Tala, die Bäuerin, die unermüdlich neue Schüsseln von der Feuerstelle an den Tisch schleppte – alle hatten sie das gleiche kupferrote Haar und dunkle, mandelförmige Augen. Außer den vieren gehörte noch eine zahnlose Greisin zum Haushalt, die unaufhörlich in sich hineinkicherte. »Mule, meine Tante«, erklärte der Bauer. »Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Vorher saß sie mit ihrer Familie auf dem Hof. Vor gut einem Jahr haben

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