Die Gabe der Amazonen
Sie hatte die Augen geschlossen. »Ja«, flüsterte sie.
Ich zog die Hand zurück.
»Das ist kein Streunergeheimnis. Das tun alle Frauen und Männer miteinander.«
»Alle?«
»Nun, vielleicht nicht alle – alle, die sich lieben, meine ich.«
»Was ist das, sich lieben? «
Man hatte mir im Leben schon leichtere Fragen gestellt.
»Das ist ein Gefühl ...« Ein Blick in Mädchens ratloses Gesicht sagte mir, daß ich so nicht weiterkam. »Wenn ... Wenn ...« – »Wenn man jemanden gern ansieht? Wenn man traurig ist, wenn er nicht da ist? Wenn man ihn gern anfassen möchte? Wenn es Freude macht, zu sehen, wie er durch den Wald geht? Wenn man lachen muß, weil er lacht?« Während Mädchen mir diese Fragen stellte, war ihr Gesicht ganz nah an mich herangekommen.
Etwas schnürte mir die Kehle zu. Ich nickte stumm.
»Ich sehe gern, wie du durch den Wald gehst.«
Mit zwei schnellen Griffen hatte Mädchen ihr Gewand abgestreift. Ihr Körper schmiegte sich an mich, lang, schmal und fest – und wärmer als das Feuer im Kamin. Ich hätte ihr sagen sollen, daß ich mit meiner Erklärung noch nicht fertig war, daß sie mich völlig falsch verstanden hatte. Ich hätte die Decken abstreifen und mit fester Stimme erklären sollen: »Mädchen, wir wollen vernünftig sein.« So und nicht anders hätte ich handeln sollen, aber – ganz im Vertrauen – in moralischen Dingen habe ich mich immer nach meinem Freund Viburn gerichtet.
Nach dem Frühstück brachen wir zeitig auf. Bis nach Beilunk hatten wir noch zwei Tagesmärsche zurückzulegen. Es gab einen Weg, der von Harmes Haus zur Straße führte.
Wir folgten ihm, bis er auf die Landstraße stieß. Es war eine der alten Reichsstraßen, deren Pflaster aus großen Sandsteinblöcken bestand. Unzählige Fuhrwerke hatten tiefe Rillen in die Steine gegraben; zwischen den Blöcken wuchs welkes Kraut. Die Straße schwang sich in einem weiten Bogen um einen dichten Wald, aus dem ein paar Felsklippen ragten. Nachdem wir ein Stück am Wald entlanggegangen waren, bahnten wir uns einen Weg durchs Unterholz und arbeiteten uns ein Stück in den Wald hinein. An einer Stelle, wo wir von der Straße aus nicht zu sehen waren, selbst aber einen guten Blick ins Freie hatten, ließen wir uns auf einem Baumstamm nieder und warteten.
»Es ist unsinnig, daß wir hier unsere Zeit vergeuden!« schimpfte Larix, faßte sich an die Nase und schleuderte einen enormen Rotzschwaden ins Gebüsch. »Wir haben bei Ingerimm Besseres zu tun, als hier zu hocken und die Straße anzustarren.«
»Eine Weile warten wir noch«, bestimmte Elgor. »Wir müssen sichergehen.«
»Ich kann nicht verstehen, daß ihr die Bauersleute mit solchem Mißtrauen bedenkt«, warf Junivera ein. »Wir haben ihnen das Leben gerettet – wie könnten sie uns da verraten wollen? Solch gottlose Menschen gibt es nicht.«
»Nicht in den Legenden und den heiligen Büchern«, sagte Elgor, »aber – ich wiederhole mich – das echte Leben ist anders, als du denkst. Zweihundert Dukaten sind sehr viel Geld. Selbst wenn diese Leute ein Leben lang schuften wie die Karrenhunde und jeden Heller in den Sparstrumpf stecken – sie werden doch niemals so viele Goldstücke auf einem Haufen sehen.«
»Was denkst du, Arve?« wandte sich Junivera an mich.
»Ich bin fürs Warten«, erwiderte ich.
Mädchen beobachtete einen Perainekäfer, der über ihre Finger krabbelte, immer bestrebt, einen Punkt in der Höhe zu erreichen. Es schien ihr gleich zu sein, ob wir marschierten oder rasteten.
Ein, zwei Stunden verstrichen. Ein Fuchs bummelte die Straße entlang, hob witternd die Nase und verschwand zwischen den Sträuchern auf der anderen Seite. Ich verfolgte durch das Gewirr der kahlen Äste die schneeweißen, wattigen Wolken, die über uns auf ihrem Weg nach Osten zogen. Aus der Ferne war das Rumpeln eines Fuhrwerks zu hören.
»Zweihundert Dukaten sind viel Geld«, wiederholte Elgor die Worte, die er vorhin zu Junivera gesprochen hatte. Seine Stimme klang betrübt. »Harme ist nicht einmal viel schlechter als viele, denen ich in letzter Zeit begegnet bin. Manchmal denke ich, Valpo und Cella, unsere kaiserlichen Geschwister, sind an allem schuld. Sie verbreiteten ihre schmutzigen Gedanken über das ganze Land. Wenn die Kaiser dem Volk nichts anderes vorleben als Habgier, Eigennutz und Völlerei – wie sollen die einfachen Leute dann ein göttergefälliges Leben führen? Kann mir das einer sagen, hm? Wie heißt es doch in Nostria: ›Die
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