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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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Male aus den Augen verloren. Manchmal – Viburn führte schließlich ein unstetes, rauhes Leben – hatte ich mir vorgestellt, was wohl wäre, wenn er eines Tages für immer ginge, ob ich es beim Abschied spüren würde, daß es der letzte wäre. Ich fragte mich, ob meine schöne Elfenmutter mir wohl ein Gespür für solche Dinge mit auf den Weg gegeben hätte. Nun wußte ich es: Als Viburn mir an jenem Tag, da er zu seinem Spaziergang mit Mädchen aufbrach, noch einmal vom Talgrund aus zuwinkte, habe ich gar nichts gespürt und nichts geahnt. Der Streuner war einfach ohne jede Vorwarnung aus meinem Leben verschwunden – gerade so wie er damals, ebenfalls ohne irgendeine Ankündigung, an meine Seite getreten war. Ich vermißte ihn sehr. Halb Albernia, Windhag und den Kosch hatte ich zusammen mit ihm bereist, und ich fragte mich nun, ob ich jemals wieder den Wunsch verspüren würde, in jene Länder zurückzukehren.
    Der Karrenboden hüpfte eine Handbreit in die Höhe und versetzte mir einen üblen Stoß. Ich sprang hinab auf die Straße. Alle Knochen im Leib taten mir weh. Welch ein Genuß, eine feste, nicht stoßende und bockende Fläche unter den Füßen zu spüren!
    Mädchen gesellte sich zu mir.
    »Warum habt ihr Steine auf den Bauern gelegt?«
    »Damit die wilden Tiere nicht an ihn herankönnen.«
    »Aber er wollte euch Böses, habt ihr mir erklärt. Weshalb schützt ihr ihn da? Und überhaupt, wenn man tot ist, dann spürt man nicht, wenn einen ein Wolf beißt, sagt Junivera.«
    »Ja, das ist wahr.« Ich suchte wieder einmal nach Worten. »Man läßt einen Menschen nicht so einfach unter dem Himmel liegen. Das tut man nicht – so will es der Brauch.« Jetzt wird sie fragen, was ein Brauch ist, dachte ich und begann vorsorglich schon wieder nach einer Erklärung zu suchen, aber sie sagte: »Hätte ich über Oheim auch Steine decken sollen?«
    »Nein, ich denke nicht. Du hast doch gesagt, daß er in einer Höhle gestorben ist. Da war er ja nicht ungeschützt.« Ich nutzte die Gelegenheit, zu etwas anderem zu wechseln: »Was war er für ein Mensch, dein Oheim?«
    »Ein guter, glaube ich, aber er war alt, noch älter als Bauer Harme. Er hat viel gebetet, aber damals wußte ich noch nicht, daß man das Beten nennt.«
    »Zu wem hat er gebetet?«
    »Das weiß ich nicht. Er hat es mir nie gesagt. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Ich habe nämlich keine reine Seele, und wenn eine Seele einmal schmutzig ist, kann es sehr lange dauern, bis man sie wieder rein bekommt.«
    »Das hat dir alles dein Oheim erzählt?«
    Mädchen nickte.
    »Was weißt du sonst noch von deinem Oheim?«
    »Oh, er hat hübsche kleine Figuren gehabt, aus Holz. Eine sah aus wie ich. Aber ich durfte sie niemals berühren. Die Figur, die mir ähnelte, hatte eine silberne Nadel im Kopf. Einmal habe ich sie in die Hand genommen, weil ich die Nadel herausziehen wollte, da wurde Oheim furchtbar böse. Er hat mich gebunden und schrecklich verprügelt. Viele Tage habe ich nichts zu essen und nur ganz wenig Wasser bekommen. Sonst hat Oheim mich nie geschlagen. Oheim sagte, wenn ich die Nadel herausziehe, wird meine Seele niemals mehr rein.«
    Noch nie im Leben hatte ich solch einen blühenden Unsinn gehört. Von Druiden, beispielsweise, erzählt man sich die seltsamsten Dinge, gruselige Geschichten von Macht und Beherrschung, aber nichts von silbernen Nadeln und reinen Seelen. Ich wußte nicht, ob ich Mädchen glauben konnte.
    »Du sagst, du hast dein ganzes Leben bei Oheim verbracht?«
    »Solange ich denken kann.«
    »Aber du hast auch gesagt, dein Leben habe nur zwei Sommer und zwei Winter gedauert. Das kann nicht sein.«
    Sie sah mich unglücklich an. »Glaubst du mir nicht? Du hast mir auch nicht geglaubt, als ich sagte, daß ich noch nie mit einem Bogen geschossen habe, und doch habe ich die Wahrheit gesagt.«
    »Vielleicht weißt du es einfach nicht besser«, lenkte ich ein.
    Mädchen stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. »O doch, ich weiß, was ich rede. Und ich weiß auch, was Wahrheit und was Lüge ist und daß man immer die Wahrheit sagen muß, wenn man Rondra gefallen will.«
    »Niemand weiß immer, was die Wahrheit ist«, warf ich ein, »vielleicht nicht einmal die Götter.«
    »Aber das ist Unsinn! Wenn man die Wahrheit spricht, dann sagt man es so, wie es ist, und wenn man lügt, dann sagt man es so, wie man möchte, daß es sein soll.«
    »Das hat dir Junivera beigebracht, nicht wahr?«
    Mädchen nickte. »Und der Oheim hat genauso zu mir

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