Die Gabe der Amazonen
gedämpfter Stimme, »nicht tief. In der Wand hinter mir fehlt eine Steinplatte. Dort muß der Einstieg sein.«
»Was ist mit den Amazonen?«
»Nichts zu hören – nichts zu sehen!«
Ich stieg die Leiter hinab, hinein in die undurchdringliche Finsternis. Als ich den linken Fuß auf festen Steinboden setzte, legte sich Viburns Hand auf meine Schulter. »Komm hier herüber!«
Ich zwinkerte, wartete darauf, daß sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten und ich wieder etwas wahrnehmen konnte, aber ich mühte mich vergebens. Die Schwärze blieb. Es machte keinen Unterschied, ob ich die Augen öffnete oder geschlossen hielt. In meinem Gürtel steckten zwei kurze Fackeln, aber wenn wir Viburns Plan befolgen und weiter unentdeckt bleiben wollten, hatte es keinen Sinn, sie anzuzünden.
»Legt eure Mäntel ab!« sagte Viburn, als Mädchen zu uns herabgestiegen war. »Auf dem Rückweg werden wir sie wieder an uns nehmen.«
In mir regten sich Zweifel, ob wir nach dieser Nacht jemals wieder Mäntel benötigen würden, aber ich behielt meine finsteren Gedanken für mich.
»Mädchen, du hältst meinen Gürtel fest, und Arve, du hakst dich bei Mädchen ein!« befahl Viburn jetzt.
Einen Augenblick später bewegte sich Mädchens Gürtel von mir weg. Ich setzte mich in Bewegung. Sie flüsterte: »Bücken!« Ich zog den Kopf ein und stolperte über eine Schwelle vor meinen Füßen. Mädchen fing meinen Sturz mit ihrem Rücken auf. Nun ging es abwärts, immer im Kreis herum.
Plötzlich wurde Mädchen nach vorn gerissen. Ich fand einen Halt an der Wand zu meiner Linken, klammerte mich mit aller Kraft fest. Zoll um Zoll zog ich Mädchen zurück. Vor mir schabten und kratzten Füße über Stein.
Viburn keuchte: »Alles in Ordnung!« und Mädchen: »Ist gut, wir haben ihn hochgezogen.«
Viburn rang vernehmlich nach Luft. »Die verdammte Wendeltreppe ... war plötzlich zu Ende ... Ein Schacht ... Keine Ahnung, wie tief ...«
Ich zog eine Fackel aus meinem Gürtel. »So geht es nicht weiter! Ich will einen Blick auf die Architektur werfen.« Zu meiner Überraschung hatte Viburn keine Einwände vorzubringen. Ich schüttete etwas Zunder aus meinem Beutelchen auf eine Treppenstufe, kramte nach Stahl und Feuerstein und schlug beide so leise wie möglich gegeneinander.
Viburns Hand tastete sich vor. Er wickelte die klebrige, von meinem Körper gewärmte Fackel aus und hielt sie dicht über das Zunderhäufchen, aus dem soeben eine kleine Flamme sprang, die mir gleißend hell erschien.
Viburn kehrte zum Ende der Treppe zurück und leuchtete hinab. »Kein Boden zu sehen«, meldete er. Auf der untersten Stufe lag ein wenig Geröll. Viburn stieß mit der Fußspitze einen faustgroßen Stein in die Tiefe und wartete vier, fünf Herzschläge lang, bis von unten ein Plumpsen erklang.
»Das scheint nicht der richtige Weg zu sein. Wir müssen wieder nach oben steigen.«
Er reichte mir die Fackel hoch, und ich übernahm die Führung. Schon nach wenigen Stufen stieß ich auf eine Tür in der Außenwand des Treppenschachtes. Das Holz war mit Pech bestrichen und mit dünnen Steinplatten und Mörtel beklebt. Wäre die Tür geschlossen gewesen, man hätte sie gewiß kaum entdecken können, aber jetzt stand sie einen Spaltbreit auf. Vermutlich hatte ich mich eben an dem Türrahmen festgehalten, als Viburn beinahe abgestürzt wäre.
Vorsichtig schob ich die Geheimtür weiter auf, leuchtete mit der Fackel in den dahinter liegenden Gang und spähte hinein. Der Stollen war etwa mannshoch, hatte einen leicht abfallenden Boden aus festgestampfter Erde, mit modrigem, pilzüberwuchertem Holz verschalte Wände und stieß nach etwa zehn Schritten auf eine steinerne Querwand.
Vor der Mauer gab es einen neuen Aufenthalt, denn wir entdeckten zwei Gänge, die an dieser Stelle in unseren Stollen mündeten. Viburn wollte den rechten einschlagen, ich aber den linken, weil ein untrügliches Gefühl mir sagte, daß dieser der richtige sei.
»Vielleicht hattest du vorhin doch recht, Arve«, murmelte Viburn. »Wir hätten den Weibern den Plan draußen vor der Pforte abnehmen sollen – sie haben gewiß an dieser Stelle keine Zeit verloren.«
Unterdessen hatte Mädchen sich gebückt, um auf dem Boden nach Spuren der Amazonen zu suchen. Nun stand sie auf und betastete die steinerne Wand. Schließlich zückte sie einen kurzen Dolch und trieb ihn in eine senkrechte Fuge. Etwas knackte, und in der Wand öffnete sich eine verborgene Tür ähnlich der im
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