Die Gabe der Amazonen
erkannte sofort: Es war Salima, Dedlanas verständnisvolle Schwester. Der Kopf der anderen Amazone war in das schwarze Tuch ihres Umhangs gehüllt. Mädchen oder Viburn hatte sie mit dem eigenen Mantel erwürgt.
»Welche ist die Anführerin?« fragte Viburn: »Die dort oder diese hier?« Und er schickte sich an, das Tuch vom Gesicht der Toten zu zerren.
»Schon gut!« wehrte ich ab. »Ich erkenne ihren Brustpanzer. Das ist Serafa – sie müßte den Plan bei sich haben ...«
Viburn untersuchte die Kriegerin mit kundiger Hand. »Nichts! Wahrscheinlich hat sie ihn in der Hand getragen, als die beiden vom Wasser überrascht wurden. Er wird dort unten liegen.« Damit stand er auf und trat an das Schott. Ich ging zu ihm hinüber und hielt die Fackel in die Öffnung. Das Wasser stand bis knapp unter der ersten Treppenstufe.
»Ich frage mich, was die Wasserfalle ausgelöst hat«, murmelte er. »Stellt euch vor, jemand benutzt den Gang, um aus dem Palast zu flüchten. Er wird diese Stelle doch erst dann überfluten, wenn er sie hinter sich gelassen hat. Das heißt, der Auslöser müßte ...«
»... auf dieser Seite sein«, beendete ich seinen Satz und tippte auf den Griff neben dem Schott.
»Arve, du ...!«
Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich ab.
Viburn kauerte noch immer vor der Öffnung und starrte auf das Wasser, das jetzt still und unbewegt auf der Treppe stand. »Da unten, am Ende der Treppe, verlief der Gang waagerecht weiter – vermutlich bis zu einer Treppe, die wieder nach oben führt.
Wie weit diese Treppe entfernt sein mag, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist dort unten jetzt alles überflutet. Vermutlich kann man nicht hindurchtauchen, die Falle würde wenig Sinn machen, wenn man es könnte ...« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich gebe noch nicht auf. Wer sich so etwas ausdenkt, der muß auch einen Ablauf für das Wasser einplanen. Vielleicht möchte er ja den Gang noch ein zweites Mal benutzen. Da wird er kaum das Wasser mit Eimern hinausschöpfen wollen ... Ein solcher Ablauf aber dürfte sich etwa in der Mitte des unteren Verbindungsgangs befinden. Bis dahin könnte man vielleicht doch ...« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Locken.
Mädchen nahm an unserem Gespräch nicht teil. Sie hatte sich neben der toten Serafa niedergelassen und betrachtete den hingestreckten Leib mit einem gedankenverlorenen Blick. Ihre Fingerspitzen glitten fast zärtlich über die Verzierungen des bronzenen Panzers.
»Kannst du gut tauchen, Arve?«
»Ich? Ich bin froh, wenn ich mich so lange über Wasser halten kann, bis mich jemand herauszieht. Und dann sogar tauchen! Nein, kommt nicht in Frage! Ich bin doch kein Molch!«
»Ist ja schon gut! Ich bin selbst kein guter Schwimmer. Mädchen, wie ist es mit dir?«
Sie schien ihn nicht zu hören.
»Mädchen!«
»Ja – was?«
»Kannst du tauchen?«
»Selbstverständlich, das lernen wir schon mit drei Jahren.«
»Was sagst du da?«
Sie hob den Kopf und schaute uns fragend an. »Was ist los? Warum guckt ihr so erschrocken?«
»Wie hast du das gemeint?« Viburn trat dicht vor sie hin und beugte sich über sie.
»Was – gemeint?«
Er packte ihre Schulter. »Du hättest mit drei Jahren Tauchen gelernt?«
Mädchen schüttelte den Kopf, daß die langen blonden Haare ihr ums Gesicht flogen. Dann sah sie uns an, als sei sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht.
»Ich fühle mich so seltsam, weiß gar nicht, was ich rede. Was ist das – Tauchen?«
»Schwimmen unter Wasser, ohne Luft zu holen«, erklärte Viburn, »aber ich denke, das hast du als Kind gelernt.«
Mädchen hatte den Kopf in die Hände gestützt und rieb ihre Schläfen. »Vielleicht kann ich es wirklich ... Mir schien es so. Es war, als ob ich träumte. Das hängt alles mit diesen beiden Kriegerinnen hier zusammen ... Einen Moment habe ich gedacht, ich würde sie kennen. Aber das kann nicht sein. Nein, ich bin mir ganz sicher, ich habe sie nie gesehen.«
»Vielleicht doch!« erwiderte ich. »Denk doch einmal darüber nach! Streng dich an!«
Viburn hatte sich wieder der überfluteten Treppe zugewandt. »Laß gut sein, Arve! Für solche Spielchen haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen das Wasser aus diesem Gang befördern. Ich bin sicher, daß es da unten irgendwo einen Ablauf gibt.«
»Aber wir wissen nicht, ob er da ist, wo du ihn vermutest, und da unten ist es finster.«
»Trotzdem, wir müssen es versuchen – oder wollt ihr umkehren?« Er wartete unsere Antwort gar
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