Die Gabe der Amazonen
Mitte des Ganges klaffte ein kleines viereckiges Loch, aus dem etwas Helles ragte, ein Pergament. Viburn zog es vorsichtig aus der Öffnung und strich es auf einer steinernen Bodenplatte glatt. Ich hielt die Fackel dicht darüber. Wir entdeckten die feinen Linien einer Silberstiftzeichnung, schwach, aber immerhin erkennbar, wenn man sich nur dicht genug über das Blatt beugte.
»Der Plan«, murmelte Viburn. »Welches Glück, daß er im Abfluß hängengeblieben ist! Seht her« – er deutete auf eine Stelle am Rand –, »hier sind wir hereingekommen. Offenbar ist das nicht das Ende des Tunnels, nein, er führt unter der Stadtmauer hindurch.« Sein Finger strich eine Falte glatt. »Wo er endet, ist leider nicht eingezeichnet. Nun, darum können wir uns später kümmern ... Seht ihr, hier sind wir entlanggegangen. Es sind sogar ein paar Fallen eingezeichnet, diese kleinen Pfeile, gewiß ein Symbol für Gefahr. Da ist so ein Pfeil, am anderen Schott, oben an der Treppe, die wir noch vor uns haben.«
Viburn löste das nasse Pergament behutsam vom Boden und legte es auf die Fläche seiner linken Hand, mit der Rechten griff er nach meiner Fackel.
»Arve, laß mich bitte die Führung übernehmen! Wir müssen auf bestimmte Dinge achten, und die kenne ich besser als du.«
An der Treppe angelangt, beleuchtete er umständlich jede Stufe, bevor er einen Fuß darauf setzte. Vor der obersten blieb er stehen und zwinkerte mich heran. »Hier, sieh mal!«
Die Deckplatte der Stufe war nicht – wie die anderen – in die Seitenwände des Schachtes eingelassen, sondern durch eine kaum sichtbare Fuge von ihnen getrennt. Die schmalen Ritzen hätte ich niemals bemerkt. »Was kann das bedeuten?« fragte ich.
»Das werden wir möglicherweise nie erfahren«, antwortete Viburn. »Gewiß löst man irgend etwas aus, wenn man auf diese Stufe tritt. Aber ich möchte sie nicht probeweise niederdrücken. Wer weiß, vielleicht schneiden wir uns den Weg nach vorn, vielleicht den Rückweg ab. Also steigt einfach über die Stufe hinweg!«
Wir befolgten seinen Rat, passierten unversehrt das geöffnete Schott und gelangten in einen zwei Mannslängen breiten Tunnel, der quer zu der Öffnung verlief. Die Decke wölbte sich so hoch, daß man sie in der Mitte kaum mit der Degenspitze erreichen konnte. Nach rechts und links maß der Gang etwa zehn Schritt, beide Enden waren mit einer Steinwand verschlossen, in beide Stirnwände war eine hölzerne Tür eingesetzt. Viburn hielt die Fackel dicht über den Plan. »Wir gehen nach links.«
Mädchen schaute fast sehnsüchtig zur rechten Stirnseite des Gewölbes. »Was mag sich hinter dieser Tür befinden?«
»Ich will es gar nicht wissen«, erwiderte Viburn. »Der Zeichner des Plans hat den Raum hinter der Tür mit drei Pfeilen markiert.« Er wandte sich nach links, ergriff Mädchen bei der Schulter und zog sie hinter sich her.
Die Tür war verriegelt, aber Viburn ließ sich nicht lange aufhalten. Ein paar wuchtige Tritte gegen die Seite, wo die Tür in den Angeln hing, genügten, und der Weg war frei.
»Nichts hält ewig«, stellte er fest, während er die Tür für uns aus dem Weg räumte, »diese modrige Kellerluft bekommt weder dem Holz noch dem Metall.«
Wir standen jetzt in einem kleinen Raum mit fast quadratischer Grundfläche. Die Wand hinter uns wie auch die Seitenwände und die gewölbte Decke waren mit Ziegeln ausgemauert, vor uns erhob sich eine Bretterwand, sie schien den hinteren Teil des Gewölbes von dem kleinen Vorraum abzuteilen. Viburn zeigte mir den Plan. Die Bretterwand war als Querstrich markiert, hinter sie hatte der Zeichner zwei Symbole gekritzelt, die ich als einen Sack und ein Faß deutete.
»Was mag das zu bedeuten haben?« fragte Viburn offenbar genauso ratlos wie ich.
»Sehen wir nach!« schlug ich vor. »Dann werden wir es erfahren.«
Viburn schob die Dolchspitze in eine Ritze zwischen zwei Brettern und zuckte erschreckt zusammen: Das Brett schwang lautlos zur Seite. Es hing an einem einzigen Nagel an seinem oberen Ende. Das Nachbarbrett war auf die gleiche Weise befestigt. Wenn man beide zur Seite schob, klaffte in der Wand eine Lücke, durch die ein schlanker Mensch bequem hindurchschlüpfen konnte. Ich schob vorsichtig erst meine Fackel, dann meinen Kopf in die dunkle Öffnung. Zu meiner grenzenlosen Überraschung schlug mir der würzige Duft von Dörrobst und Pökelfleisch entgegen. Gleichzeitig hörte ich ein leises Rascheln. Dann war alles still.
Viburn und
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