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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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Mädchen behielt den Brunnenschacht im Auge, während Viburn und ich versuchten, das Gitter hochzustemmen. Wie zu erwarten war, rührte es sich nicht. Nein, das stimmte nicht ganz: Einen Zoll etwa ließ es sich nach oben bewegen, dann stieß es gegen eine Sperre.
    Ein dumpfes Glucksen! Wir flogen herum. Auf dem Wasser zerplatzte eine einzelne dicke Blase. Drei Klingen ruckten hoch. Nichts geschah. Nach endlos langer, atemloser Wartezeit wandten Viburn und ich uns wieder dem Gitter zu.
    »Das haben wir gleich«, flüsterte Viburn voller Zuversicht. Das namenlose Grauen hatte seine Macht über ihn verloren: Er hatte eine greifbare Aufgabe zu lösen – das Gitter mußte überwunden werden.
    »Wenn sie hier die gleiche Sperre wie drüben eingebaut haben, dann ...« Er murmelte gedankenverloren vor sich hin, während er ein dünnes, festes Seil zu einer Wurfschlinge verknotete. Schließlich streckte er den Arm mit dem Seil durch das Gitter und warf die Schlinge wieder und wieder nach oben.
    Blasen blubberten. Viburn ließ sich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Endlich hatte sich die Schlinge verfangen. Viburn zurrte sie fest und hielt den Strick senkrecht gespannt. »Arve ...! Arve, dreh dich um und schau her! Du steckst deinen Degen oben durch das Gitter – mit dem Griff voran. Sieh zu, daß du mit dem Heft den Strick erwischt, dann drückst du ihn einfach nach hinten ... Es hat keinen Sinn, den Riegel nach unten zu ziehen, man muß ihn irgendwie zurückstoßen ... Na los, mach schon! Wir ...«
    Eisiges Wasser schwallte wie aus Eimern gegossen über uns hin.
    Mädchen stieß einen kindlichen Seufzer aus.
    Ob auch ich einen Laut hervorbrachte, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch daran, daß ich mich eine Zeitlang nicht bewegen konnte. Ich stand einfach da, in der Rechten den Degen, in der Linken die Fackel – die wie durch ein Wunder nicht erloschen war –, und starrte es an.
    Das Geschöpf ragte eineinhalb Mannslängen hoch aus dem Schacht. Wasser troff von seinem pelzigen Schädel, strömte in Bächen über die wulstigen Ringe aus weichem Fett, die – am Hals beginnend – den ganzen massigen Leib der Kreatur umspannten. Das ferne blaßbraune Fell auf den Fettringen war von kleinen Narben übersät. Das Wesen schüttelte sich, so daß feine Wassertröpfchen wie eine Regenböe nach allen Seiten stoben, und öffnete seinen Rachen. Zwischen oberer und unterer Gesichtshälfte klaffte plötzlich ein rosiger Spalt, und die Kiefer entfernten sich noch weiter voneinander, bis ein Pferdekopf leicht in den gähnenden Schlund hineingepaßt hätte. Das rosafarbene Loch war gesäumt von zwei Reihen schwärzlicher, kleiner, pfeilspitzer Zähne, jeder einzelne hatte die Form des Reißzahns eines kleinen Hundes, aber es mochten mehr als hundert sein ... Dem offenen Rachen entströmte ein süßlicher, nicht einmal unangenehmer Duft. Dicke Speichelfäden quollen aus den Winkeln des Mauls, krochen über das feuchte Fell – eine unendlich lange Zunge holte die Fäden wieder zurück.
    Mit dumpfem Klang klappten die Kiefer zusammen. Der Anblick des klaffenden Mauls war schwer zu ertragen gewesen, aber nun sah die Kreatur noch abscheulicher aus. Damals verspürte ich nur einen namenlosen Ekel, aber heute weiß ich, was mir so widerwärtig war: Das triefende Ungeheuer, diese fettgepolsterte Riesenwalze, erinnerte entfernt an einen Menschen. Menschlich wirkten die krallenbewehrten, mit Schwimmhäuten bespannten Hände, die, fast zierlich anzuschauen, an den fettbehangenen Armen saßen, menschlich schienen auch die kleinen blaugrauen, nach vorn gerichteten Augen und der buschige Schnurrbart, der über die Oberlippe herabhing. Seltsam, fast komisch und überaus menschenähnlich die blonden, fingerlangen Haare, die auf dem Kopf des Untiers wuchsen und nun, von einem sauberen Mittelscheitel geteilt, an seinem Schädel klebten. Nur der riesige Rachen, der jetzt in den Halsspeckrollen versunken war, und die ständig auf und zu klappernden Nüstern verliehen dem Gesicht eine bestialische Fremdartigkeit. Wieder besudelte Geifer das hellbraune Fell. Der starr auf uns gerichtete Blick, stumpfsinnig, gierig und böse zugleich, sagte uns: Wir waren der Grund für den widerwärtigen Speichelfluß.
    Seit dem Auftauchen des Untiers hatten wir uns nicht mehr bewegt, und die Kreatur hatte sich darauf beschränkt, uns aus ihren fischhaft blöden Augen anzustarren. Jetzt schoß plötzlich ihre rechte Hand (oder sollte ich sagen: Flosse?) vor.

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