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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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Öffnungen je ein schmaler Gang, der eine führte links, der andere rechts an dem runden Gelaß vorüber. Wir entschieden uns für den linken und stießen nach wenigen Schritten auf eine Steinwand, die uns den Weg versperrte. Also versuchten wir es mit dem rechten – mit dem gleichen Ergebnis.
    Viburn ließ sich nicht entmutigen. »Es muß eine Möglichkeit geben, diese Wände aus dem Weg zu räumen. Sonst wären die Bogengänge gar nicht angelegt worden. Gib mir die Fackel, Arve!«
    Viburn untersuchte die steinernen Sperren Zoll um Zoll, immer wieder trieb er den Dolch in eine Fuge, sprengte mit der Spitze Mörtel und Steinsplitter ab. Tatsächlich brachte seine Arbeit schließlich hinter einer dünnen Steinschicht eine geteerte Holzplatte zum Vorschein: eine getarnte Tür, so wie wir sie schon am Anfang des Tunnels gefunden hatten. Viburn strahlte uns an, seine Miene sagte: »Die Tür, die einem erfahrenen Streuner wie mir widersteht, muß erst noch erfunden werden.«
    Es dauerte über eine halbe Stunde, bis er sich mit der Tatsache abgefunden hatte, daß es solche Türen tatsächlich gab.
    »Wir könnten versuchen, sie anzuzünden«, schlug er vor, aber nur, um seine endgültige Niederlage nicht einzugestehen. Es war klar, daß es uns selbst in Stunden nicht gelingen würde, das feuchte Holz in Brand zu setzen, ganz abgesehen von dem verräterischen Brandgeruch, der leicht die Wachen auf den Plan rufen konnte. Wir kehrten zum Gitter zurück.
    Viburn versuchte es nach oben zu drücken. Es hob sich um ein paar Zoll, dann stieß es gegen einen Widerstand. Ich hielt die Fackel hoch. Wir entdeckten eine hölzerne Sperre, die vom runden Raum aus nicht zu erreichen war, von unserer Seite ließ sie sich leicht herausziehen.
    Nun brauchten wir nur noch das Gitter nach oben zu schieben, und der Weg wäre frei. Viburn und ich tauschten einen langen Blick.
    »Leuchte noch einmal mit der Fackel hinein«, sagte er. »Ich will wenigstens wissen, ob es auf der anderen Seite einen zweiten Ausgang gibt.«
    Er schirmte die Fackel mit der Hand ab und spähte aus schmalen Augenschlitzen in die Finsternis. »Ein Gitter«, stellte er schließlich fest, »dieses hier ganz ähnlich.«
    Wieder sahen wir uns an und nickten gleichzeitig mit dem Kopf. Gemeinsam bückten wir uns und schoben das Gitter hoch. Mädchen brach ein Brett aus den Überresten der eingetretenen Tür und stellte es senkrecht unter das Gitter. Das Brett hielt stand. Viburn zog langsam, fast lautlos seinen Säbel, ich tat es ihm gleich, Mädchen hielt ihre Waffe schon in der Faust.
    Schulter an Schulter mit Viburn betrat ich den Raum. Stummes Entsetzen wehte mir wie eine feine Gischt entgegen, legte sich über mein Gesicht und drang in meine Kleider ein. Mir war, als würde ich das tausendfache Sterben sehen, spürte die Qual von Schweinen, Pferden, Hunden, Menschen und anderen Kreaturen, ahnte ihren Todesschrei, in dem sie einander alle gleich geworden waren. Knochen knackten, Schädeldächer splitterten ... Über all diese Geräusche, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie in der Wirklichkeit oder nur in meinem Kopf erklangen, legte sich ein anderer, noch widerwärtigerer Laut: ein freßgieriges Stöhnen und Schnaufen, ein sabberndes Schlürfen und Schmatzen.
    Mir war, als hätten die Mauersteine ringsumher die Todesangst der tausend Opfer in sich aufgesogen, um sie nun wieder auszuströmen. Wir konnten sie riechen, fühlen und schmecken: die Angst der Elenden, die oben auf den steinernen Podesten verhungert waren, deren Sterben in scheinbarer Sicherheit nur länger gedauert hatte und grausamer gewesen war.
    Schwarz und spiegelglatt stand das Wasser im runden Brunnenschacht; wie eine riesige Pupille starrte es teilnahmslos zur gewölbten Decke hinauf.
    Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und tat einen Schritt in den Raum hinein, schloß auf zu Viburn, der die Lähmung schneller als ich überwunden hatte.
    Noch einen Schritt – und wir standen am Rand des Brunnenschachtes. Ich beugte mich vor und spähte hinab, sah nichts als die dunkle Spiegelung des steinernen Deckengewölbes. Waffen und Augen stetig auf den schwarzen Spiegel gerichtet, gingen wir – behutsam einen Weg über die verstreuten Knochen ertastend – langsam um die Schachtöffnung herum, Mädchen und ich nach links, Viburn nach rechts.
    Jenseits des Schlundes trafen wir wieder aufeinander und legten – häufiger nach hinten als nach vorn schauend – die wenigen Schritte bis zum Fallgitter zurück.

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