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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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die Nebensächlichkeiten kümmert, hatte inzwischen die Überreste der Tür untersucht. »Das hätten wir auch leiser haben können«, verkündete er flüsternd. »Der Riegel war gar nicht vorgeschoben ...«
    Auch mir war nach Flüstern zumute. Niemals während unseres langen Marsches durch den Tunnel hatte ich mich so unbehaglich gefühlt wie jetzt beim Anblick der Dunkelheit hinter den Gitterstäben. Mädchens Hand schob sich unter meinen Arm.
    Gemeinsam mit Viburn legte ich die hinderliche Tür flach auf den Boden. Über sie hinweg schob ich mich langsam vor bis zum Gitter, bereit, beim geringsten Laut, bei der kleinsten verdächtigen Bewegung sofort zurückzuspringen.
    Nichts rührte sich.
    Hinter dem Gitter erstreckte sich ein runder Raum. Sein Durchmesser mochte mehr als zehn Schritt betragen, ich konnte ihn nur schätzen – das Licht der kleinen Fackel reichte nicht aus, um das seltsame Gelaß auszuleuchten.
    Der größte Teil des Bodens wurde von einer ebenfalls runden Öffnung eingenommen. Das Loch entsprach der Mündung eines gewaltigen Brunnenschachts, und es war fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Der Abstand zwischen dem Schacht und den Rundmauern betrug etwa eine Mannslänge, so daß man bequem um den Brunnen hätte herumgehen können, wäre der Boden nicht über und über mit Schutt und Holzresten, mit Haufen von seltsam bleichen Gebilden bedeckt gewesen.
    »Bei Boron!« wisperte Viburn. »Noch nie habe ich solche Mengen von Knochen gesehen.«
    Er hatte recht. All diese Kehrichthaufen bestanden aus den Überresten von Schenkeln und Becken, aus Rippenkäfigen und kugeligen Schädeln mit leeren Augenhöhlen. Vielleicht hatte ich die Gebeine von Anfang an erkannt, aber etwas in mir hatte sich geweigert, den scheußlichen Anblick so zu deuten.
    Mir wurde kalt.
    Viburn war ein nüchternerer Beobachter. »Sieh doch nur, das sind nicht nur Menschenknochen. Da drüben liegt ein Pferdeschädel, und hier«, er zeigte auf ein Gebilde, das direkt zu unseren Füßen hinter dem Gitter im Fackelschein schimmerte, »das ist ein Unterkiefer von einem Schwein. – O, sieh mal da oben!«
    Ich schaute in die Richtung, in die sein Finger wies. An zwei Stellen ragten vor der runden Außenwand kantige steinerne Säulen auf. Oben auf diesen Säulen – sie waren gut mannshoch – kauerte je ein menschliches Gerippe. Die Knochen hatten sich noch nicht voneinander gelöst. Man konnte erahnen, daß die Unglücklichen dort auf ihren hohen Podesten im Sitzen gestorben waren.
    Die Gebeine auf dem Boden dagegen waren wirr durcheinandergewirbelt und teilweise zerbrochen und zertrümmert.
    »Was mag das alles zu bedeuten haben?« murmelte Viburn. »Das sieht aus wie der Futterplatz eines stinkenden Tatzelwurms oder eines sonderbaren Feinschmeckers.«
    Wir warfen beide einen Blick auf den schwarzen Brunnenschacht, in dem das Wasser glatt wie ein Kristallspiegel stand.
    »Vielleicht lebt es nicht mehr«, sagte ich vage. »Die Knochen scheinen alle schon recht lange hier zu liegen ...«
    »Vielleicht hat es aber auch besonders großen Hunger, eben weil es lange nichts Anständiges mehr zu beißen bekam«, gab Viburn zurück. Er versuchte, seiner Stimme einen lockeren Klang zu geben, aber seine tiefernste Miene paßte nicht zu seinen scherzhaft hingeworfenen Worten. Mich selbst hatte eine lähmende Beklommenheit ergriffen. Mit Mühe löste ich meinen Blick von den Überresten all der unglückseligen Wesen, die in der runden Kammer ein grausames Ende gefunden hatten.
    »Ich fühle mich so seltsam«, flüsterte Mädchen. »Mir ist kalt, viel kälter als vorhin im Wasser, und mein Hals ist ganz eng ...«
    »Du hast Angst«, erwiderte ich.
    »Vielleicht. Ich weiß, was Angst ist. Viburn hat mir davon erzählt. Aber wenn ich Angst habe, dann bestimmt nicht vor diesen Gerippen. Ein Haufen alter Knochen kann uns doch nicht gefährlich werden.«
    »Nun, irgend jemand muß all diese Kreaturen umgebracht, wahrscheinlich sogar aufgefressen haben. Vielleicht fürchtest du dich vor diesem Unbekannten. Mir jedenfalls geht es so.«
    »Nein, das ist es auch nicht. Solange ich nicht weiß, ob ...«
    »Könnt ihr eure Erörterung nicht später fortsetzen?« fuhr Viburn ungeduldig dazwischen. »Wir müssen noch etwas erledigen. Wenn wir Glück haben, brauchen wir diese Knochen nicht in ihrer Ruhe zu stören.« Er zeigte auf eine der Öffnungen in der Korridorwand. »Könnte sein, daß man um den Raum herumgehen kann.«
    Tatsächlich begann hinter beiden

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