Die Gabe der Amazonen
weißt du.«
»Nein, das weiß ich nicht.« Viburn schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß nur eines ganz genau: Unter den Händen von einem phantasievollen Foltermeister würde ich meinen besten Freund verraten – und ich bin ein Mensch, der den Verrat für eines der schlimmsten Verbrechen hält.«
Mädchen ging zu den beiden hinüber, blieb hochaufgerichtet vor Junivera stehen. »Schluß mit dem unnützen Gerede! Steh auf und komm mit uns, Junivera! Du beanspruchst meine Geduld mehr, als es dir zukommt.«
Junivera zuckte zusammen, griff nach ihrem Packen und sprang hastig auf.
Wir waren kaum ein paar hundert Schritt gegangen, als die Reiter zurückkehrten. Larix sollte recht behalten: Das Hufgetrappel war weithin zu hören. Uns blieb reichlich Zeit, bäuchlings ins Farnkraut zu kriechen. Wir hatten uns in zwei Gruppen aufgeteilt, lagen aber nicht weit genug voneinander entfernt, um uns nachher im Nebel nicht zu verlieren. Bei mir waren Mädchen und Larix. Gemeinsam lauschten wir auf das Stampfen der Hufe, auf das Kollern der Steine. Die Geräusche kamen von mehreren Seiten. Offenbar waren die Reiter ausgeschwärmt, um das Tal in einem breiten Fächer zu durchstreifen. Bald war der Nebel ringsumher vom Schnauben der Pferde, von klappernden Tritten und leise klirrendem Stahl erfüllt. Ich hob vorsichtig den Kopf über die Deckung und starrte in die grauen Schwaden, bis mir die Augen schmerzten, aber es war nirgendwo eine Bewegung zu entdecken. Als ich mich gerade wieder hinlegen wollte, sah ich eine Silhouette, eine Spur dunkler als der Nebel ringsumher. Der Reiter näherte sich unserem Versteck schräg von der Seite. Wenn er seine Richtung beibehielt, würde er dicht an uns vorüberreiten, uns aber kaum entdecken. Vorsichtig zog ich den Kopf zwischen die Schultern.
»Hier ist nichts zu sehen! Ich komme rüber nach links!«
Die Stimme erscholl so laut und unvermittelt, daß ich erschreckt zusammenfuhr – eine unbeherrschte, verräterische Bewegung, aber sie blieb unentdeckt. Der Reiter sprengte rasch davon. Ich atmete langsam aus. Die Stimme war mir durch Mark und Bein gegangen, obwohl sie gar nicht unangenehm geklungen hatte: Es war eine Frauenstimme gewesen, und ich kannte sie – sie gehörte Dedlana, ›meiner‹ Amazone aus dem Schwarzen Bären.
»Das sind keine Reiter aus Beilunk«, erklärte ich, nachdem wir wieder aufgestanden waren und uns das feuchte Laub von den Kleidern geschüttelt hatten, »das sind Amazonen, und sie sind auf der Suche ...«
»Nach uns?« fragte Larix.
»Nach wem sonst«, erwiderte Viburn. »Sie haben sich von Anfang an mehr als genug um uns gekümmert, so sehr, daß ich fürchte, unsere Unternehmung ist verraten worden, bevor wir noch aufgebrochen waren. Und nach dem Kampf im Beilunker Tunnel haben sie erst recht einen Grund, nach uns zu suchen, das liegt doch auf der Hand.«
Wir gingen weiter; ich übernahm die Führung. Es fiel mir nicht schwer, in diesem Nebel die Richtung zu halten. Dazu brauchte ich nicht einmal auf die bemooste Seite der Baumstämme und ähnliche Zeichen zu achten. Meistens finde ich mich in der Wildnis nicht besser zurecht als irgendein anderer Waldläufer, der die Zeichen der Natur zu deuten versteht, aber manchmal weiß ich einfach, wohin ich gehen muß. Dann wandere ich durch eine wildfremde Landschaft so sicher wie durch eine Straße in meinem Heimatdorf. Ich nehme an, daß ich diese Kraft – Viburn nennt sie mein ›Näschen‹ – meiner elfischen Mutter zu verdanken habe.
Der Boden stieg leicht an, war aber mit einem weichen dünnen Gras bewachsen, auf dem es sich angenehm gehen ließ. Ich kam so gut voran, daß die Gefährten hinter mir Mühe hatten, im noch dichter werdenden Nebel die Verbindung mit mir nicht zu verlieren. Eben hatte ich mich vorsichtshalber wieder einmal nach Mädchen umgedreht, die gleich hinter mir ging. Als ich wieder nach vorn schaute, standen zwei Amazonen vor mir, hoch oben auf ihren großen Pferden thronend. Beide hatten ihre Säbel in der Hand.
»Achtung, Mädchen!« rief ich und warf mich zur Seite in einen Strauch.
Hinter mir polterten die schweren Hufe vorüber. Ich warf mich herum, zerrte an meinem Degengriff, starrte in den Dunst, sah Mädchen, die reglos, mit halb erhobenen Armen auf die ansprengenden Reiterinnen starrte. Die vorderste Amazone riß den Säbel hoch.
Einen Wimpernschlag lang dachte ich, Mädchen plante eine ihrer Finten, doch dann wurde mir klar, daß etwas sie lähmte, daß sie völlig
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